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Varkala, Indien

Ich geniesse die Abendstimmung, das Rauschen der Wellen, die recht hoch sind und erinnere mich an Frankreich oder Italien: Eine Stadt am Ende eines Tunnels, eine Art Klippe, zehn Meter weiter unten zischt die Brandung. Ich glaube, dies war die Stimmung, die mich veranlasste mit 17 bei Mächler eine Wellenzeichnung zu machen, was ein Flop wurde, da er mich einmal mehr nicht verstanden hatte. Im Gegensatz zu hier war es damals stürmisch, das Bild hat für mich im Moment eine starke Romantik. Einen Herbststurm habe ich schon lange nicht mehr erlebt. Vielleicht habe ich langsam genug von der ewigen Sonne? Ich weiss nicht. Was mir wohl fehlt ist das massive, das den Wettern trotzt. In Indien fehlt diese Statik fast komplett. Alles scheint provisorisch und hält dann doch für lange, weshalb alles verlottert wirkt, es gibt kaum Neues, da das Neue schon nach kürzester Zeit alt aussieht – vielmehr nicht alt, sondern verwahrlost. Die Mauern Europas sehen dazu im Gegensatz alt aus, aber intakt. Es ist dieses Gewaltige, das mir im Sinn ist, das ich wohl auch auf die Wellen hier beziehe. Doch diese Wellen brechen langsam und auch wen sie eine gewisse Grösse besitzen, sehen sie gemächlich aus, wirken sie schwach. Sie krachen nicht gegen die Mauer, spritzen nicht 15 Meter hoch, wirken keineswegs bedrohend. Und das passt wieder zu Varkala, wo sich die langweiligsten Menschen zu sammeln scheinen.

Auch wenn ich oft das Bedürfnis nach Harmonie habe, merke ich, dass ich die Konfrontation brauche, sie weckt mich, gibt mir Kraft. Bei der Konfrontation gehts um Siegen oder Verlieren. Da ich nicht verlieren kann, muss ich mich einsetzen, meinen Ehrgeiz gebrauchen, was Kräfte in mir weckt, die oft negativ sind, oft aber auch Grundsteine für neue Kreativität. Wenn ich zu lange alleine bin, suche ich vielleicht die Konfrontation mit mir selber, die dann destruktiv wirkt, da ich alles kritisiere – wie ich sonst halt andere kritisiere. So wie ich oft Trost in mir finden kann, empfinde ich manchmal Liebe, manchmal Hass mir gegenüber, zum Teil muss ich mich vor mir selbst schützen, weil ich mich zu hart bewerte. Ich wundere mich, ob diese Schizophrenie bei jedem Menschen in stärkerer oder schwächerer Form vorhanden ist?

Wie kann ich uns beide versöhnen? Das ist wohl kaum möglich, solange wir so gute Freunde sind – siamesische Zwillinge, die nicht umhin können, miteinander zu leben. Freunde müssen streiten, sonst gehen sie entweder auseinander oder ineinander. Insofern als ich mich nicht entzweien kann, bliebe nur die andere Möglichkeit übrig, doch will ich mich in mir aufgeben? Will ich diese Harmonie überhaupt?

Eine solche Harmonie – Selbstzufriedenheit – wäre der Tod jeglicher Kreativität, jeder Weiterbewegung, jedes sich Weiterentwickelns. Ich denke, diese Harmonie erreicht zu haben, bedeutet im Buddhismus ein Boddhisatva geworden zu sein – eins mit sich und dem Universum. Doch kann diese Stagnation das Ziel sein? Sollte es einen Punkt geben, an dem ein Mensch in sich harmonisch ist, weil es keinen Streitpunkt mehr gibt? Oder hat er einfach innegehalten? Wenn das Leben ein Prozess, ein Kontinuum ist, das einer gewissen Dialektik folgt, bedeutet die Aufgabe des Selbst in sich – oder seine Verschmelzung – Stagnation, Ende. Das sagen die Buddhisten ja auch – der Boddhisatva hat alles erreicht, doch ist das Ziel wirklich diese innere Ruhe?

Vielleicht, nur kann ichs mir nicht vorstellen. Klar wäre es schön in sich Ruhe zu finden, nicht mit sich selbst zu streiten, oder sich ständig selbst zu kritisieren. Harmonie bedeutet Glück. Und vielleicht findet die Suche nach dem Glück ihr Ende in der inneren Harmonie, die die Voraussetzung für ein harmonisches intersubjektives Leben ist. Denn: Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst.

Die Dimension dieses Spruches ist eine völlig andere, als diejenige, die Kant im kategorischen Imperativ aufzeigt. Kants Imperativ ist rational hergeleitet, er beruft sich auf Gerechtigkeit, im Endeffekt auf Egoismus. Nicht aus der Selbstliebe soll die “äussere, zwischenmenschliche Liebe” resultieren, sondern negativ formuliert, die Angst vor dem Selbstverletztwerden, soll in positive Handlungen überführen. Man sieht, dass Rationalismus in der Ethik wenig bis nichts zu suchen hat, denn aufgrund von Kants Imperativ – wenn alle sich daran halten würden – würde eine Welt voller Angst und Rechtfertigung entstehen. Denn oftmals ist man gezwungen etwas zu tun, das man selbst nicht “erleben” will, das man nicht als allgemeines Gesetz sehen möchte. Und in diesem Moment müsste man die Handlung unterlassen oder sich Vorwürfe machen. Es gäbe also die vollendete Verdrängung von “bösen” Wünschen, die zum Menschsein gehören, (gerade Wertungen sind zudem immer subjektiv, man könnte also gerade indem man das Gute will das Böse tun) oder Komplexhaufen, die sich die ganze Zeit Selbstvorwürfe machen – kurz gesagt, man würde sich vom Erreichen dieser “inneren Harmonie” rasch entfernen – was auch bei den meisten – wenn nicht gar allen moralischen Menschen geschieht.

Ein Widerstreit bleibt: Die Suche nach der inneren Harmonie erscheint mir in der Tat erstrebenswert, es ist ein Wert, der in vielen Religionen enthalten ist und zwar als Grundkern. Doch: Ist Glück wirklich Harmonie, oder ist nicht vielmehr Harmonie Stagnation und damit Unglück? Oder gelingt hier die Synthese von Glück und Unglück?

Die Brandung wogt weiter. Ein leichter Rosaschein ziert den Himmel und erinnert mich daran, dass noch vor kurzer Zeit eine rosa Scheibe am Horizont stand und langsam mit dem Meer verschmolz. Kein Zeichen von Sturm , wir sind weiterhin in Indien, wo die Zeit langsamer vergeht.


Was kann es Schlimmeres geben als Stagnation, was Schöneres als Harmonie? Harmonie aber ist Stagnation, oder gibt es eine Weiterentwicklung in der Harmonie? Ist permanente Harmonie überhaupt möglich oder bloss Selbsttäuschung?

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