Der Weg von Zürich ins ferne Beograd scheint ein einfacher zu sein. Nicht nur wird die ehemalige Hauptstadt Jugoslawiens direkt angeflogen, es gibt sogar einen direkten Zug. Abfahrt um 21:40 Uhr, Ankunft um 17 Uhr. Zwanzig Zugstunden, immerhin vier Stunden weniger als ins kriegsversehrte Sarajevo. Doch die ersten Hürden müssen bereits auf dem Reisecenter der SBB in Zürich genommen werden. Die direkte Fahrt ist nur im Sitzwagen möglich – Couchette fahren nur bis Zagreb, die Buchung der Couchette mit anschliessender Sitzplatzreservation überfordert den Beamten – bis es dann doch noch klappt. Beograd wird zwar direkt angefahren, doch ob man dabei noch vom gleichen Zug sprechen kann, ist fraglich. Mehrmals werden Wagen an-, um- und abgehängt, in Zagreb erhält er zudem eine neue Zugnummer, diese Fahrt scheinen nur Exoten auf sich zu nehmen. Wer es sich leisten kann, nimmt das Flugzeug oder den eigenen Wagen.
Trotz der vielen Unannehmlichkeiten wie die hyperaktive und überlaute Lydia, die aufgeregt durch die Nachtfahrt keine Ermüdungserscheinungen zeigen will, verläuft die Fahrt vorerst wenig ereignisreich. Die Grenzkontrollen spielen sich ohne Probleme ab, auch wenn es mich erstaunt, dass die Slowenen – seit einem Jahr EU-Mitglied – die Grenzkontrolle überhaupt durchführen. Auch dass der Zugbegleiter von einer stündigen Verspätung spricht, beunruhigt nicht weiter, da wir laut Fahrplan lediglich zwanzig Minuten im Rückstand sind. Kein Wunder bei den vielen Rangiermanövern und Richtungswechseln in Oesterreich.
In Zagreb füllt sich der Zug schnell von Neuem, wobei ich den Wagen wechseln muss, was mich weg von der quengelnden Lydia hin zu zwei Engeln bringt, deren Anblick allein die ganze Reise wert sind. Im geschlossenen Sechserabteil kommt man sich schnell näher, wobei sich das Sprachproblem als fast unlösbar herausstellt. Auch wenn ich kein Wort verstehe, ist es spannend zu beobachten, wie sich die zwei serbischen jungen Frauen mit einem kroatischen Jungen unterhalten, der vom Aussehen her durchaus als Ultranationalist durchgehen würde. Zudem hat es sich ein Paar aus Norwegen im Abteil bequem gemacht, mit ihrer ebenfalls gut zweijährigen Tochter, die aber von den Strapazen der Reise gezeichnet zu sein scheint und meist schläft.
In Zagreb fallen die vielen Reinigungsangestellten auf, die darauf achten, dass sich keine Zigarette und keine Limodose auf dem Bahnsteig, oder den Geleisen verirrt. Die Löhne sind tief, der Wille spürbar, möglichst bald der EU beitreten zu können. Wobei sich das Land wirtschaftlich mindestens auf der Höhe Griechenlands zu bewegen scheint. Wundern tun mich höchstens die kroatischen Bahnarbeiter, die auf jedem Bahnhof mit einem langstieligen Hammer herumstehen, dessen Funktion ich nicht eruieren kann. Ob den Bremsen der Züge manchmal nachgeholfen werden muss? Ein nicht gerade beruhigender Gedanke, der sich aber sicher auch als falsch herausstellen würde. Die Landschaft, die an uns vorbeibraust ist von einem satten grün, die wenigen Dörfer eher ärmlich, die Haltestellen oft nur durch ein Perron erkennbar, ohne Ortsangabe. Der Grenzübertritt nach Serbien wird erstmals mit Stempel im Pass festgehalten. Die Formalitäten beschränken sich auf das Minimum und innert weniger Minuten erreichen wir Sid, den serbischen Grenzort. In Sremska Mitrovica steigen die zwei Engel aus – mitten in der Provinz und bald komme ich mit dem norwegischen Paar ins Gespräch, sie Serbin, die kurz vor dem Krieg in Beograd Schiffbau studiert hatte und nach vielen Umwegen in Bergen (Norwegen) gelandet war, da in Serbien der Schiffbau zum Stillstand gekommen war. Sie ist von einer auffallend negativen Grundhaltung, scheint mit ihrem Leben nicht nur zufrieden zu sein, obwohl sie es ja eigentlich „geschafft“ hat. Sie erzählt mir in gutem englisch von Serbien, von den Problemen, die das Land hat (das ganze Land ist ein Problem) und weist mich auch darauf hin, dass man sich von den schicken italienischen Kleidern der jungen Frauen nicht beeindrucken lassen soll. Ich werde schnell merken, dass das Land sehr widersprüchlich ist und viele tatsächlich vor allem den Schein wahren wollen. So fallen mir Häuser auf, deren Fenster zugemauert sind, wofür es eine einfache Erklärung gibt. Die Menschen haben kein Geld, weshalb sie die Häuser möglichst billig bauen. Zuerst die Grundmauern, ein Dach, für den Innenausbau bleibt kein Geld übrig. Da die serbischen Winter hart und kalt, die Sommer schwül und heiss sind, ist es in einem Haus ohne Fenster und ohne Isolation aber kaum auszuhalten, weshalb die Fenster mangels Geld zugemauert werden, bis man sich eine bessere Lösung leisten kann.
Die Fahrt durch die Vojvodina zeigt eine sehr ländlich geprägte, arme Gegend, die Traktoren erinnern an die schrecklichen Bilder der Flüchtlingsströme aus dem Kosovo, zudem fallen die klassisch geformten Heuballen auf. Wer über ein Auto verfügt, scheint dieses schon lange zu besitzen, man sieht vor allem alte und uralte Modelle der Marke Yugo oder Zastava, der Wagen Jugoslawiens. Eine ärmliche Kiste, die an alte Modelle Fiats erinnert, drei Türen, Platz wenns sein muss für bis zu fünf Personen mit wenig Gepäck. Robust, praktisch, aber etwas aus der Zeit gekommen. In Beograd sieht man dann auch ein neueres Modell, das auf dem in den 80er Jahren von Citroen gebauten Modell „ZX“ basiert, doch wird auch die kleinere Version weiter fabriziert. Wobei es in Folge des Krieges von 1999 zu einem Totalproduktionsausfall kam, nachdem die Nato die Yugo-Werke als kriegsentscheidendes Ziel ausgesucht hatte und die Fabrik dem Erdboden gleich machte. Gedankt haben werden es einige westeuropäische und koreanische Autofirmen, deren Modelle in Serbien zunehmend häufiger zu sehen sind.
Weshalb man aber vor allem alte Modelle sieht, auch dafür hat meine Gesprächspartnerin eine einfache Erklärung: wer sich ein neues Auto kauft, muss damit rechnen, dass es geklaut wird. Auch wenn die Kriminalitätsrate sehr niedrig sei, seien besonders Modelle der Marke Audi sehr begehrt, weshalb einige, die sich ein neues Auto kauften, dafür sorgten, dass es möglichst bald über eine ansehnliche Zahl Beulen verfügt… Zumindest für Beograd scheint diese Darstellung aber kaum noch zuzutreffen, da man dort immer mehr schnittige und schicke Wagen sieht, sich dort eine neureiche Schicht etabliert, die ihren Reichtum auch zeigen will.
Auf eine ganz andere Art Wagen treffen wir bei der Anfahrt nach Beograd. Grosse Handwagen, die sich wohl auch für den Transport mit Pferden eignen würden, fallen uns ins Auge, nachdem ein immer penetranterer Gestank unser Abteil erreicht. Roma, Zigeuner. Sie stellen die absolut unterste Schicht nicht nur Serbiens dar, gehasst und geschasst. In der Slowakei wurde ein Dorf vor wenigen Wochen berühmt, weil es um eine Siedlung von Roma eine Mauer zog. Dem Vorwurf, man baue ein Ghetto, konterte der Bürgermeister damit, dass es zwei Zugänge gebe… Die Roma in der Slowakei leben grösstenteils von der Sozialhilfe – oder, so wird es ihnen zumindest zur Last gelegt, von Diebstahl. Da die Sozialhilfe im Zuge des Systemwechsels (weg vom Sozialismus hin zum Kapitalismus) massiv gestrichen wurde, scheint der Diebstahl für viel Roma der einzige Ausweg geblieben zu sein, weshalb sich die Regierung für drastischere Massnahmen entschied.
Die Roma waren verschiedentlich Opfer von Völkermord, von Vertreibung und Ghettoisierung. Ursprünglich „fahrend“, also von Ort zu Ort ziehend, passten sie nicht mehr in das heutige Weltbild, weshalb sie in Sozialwohnungen gepfercht wurden. Damit konnten sie sich aber offensichtlich nicht abfinden, weshalb sie mehr und mehr an den Rand gedrängt und abgeschoben wurden. Viele Roma in Serbien sind zudem Flüchtlinge nicht zuletzt aus dem Kosovo (Serbien ist weltweit eines der Länder mit der höchsten Flüchtlingsaufnahmequote!) und siedelten sich offensichtlich entlang der Eisenbahnlinie an. Wobei man die schäbigen Bretterverschläge kaum als „ansiedeln“ bezeichnen kann.
Die hygienischen Verhältnisse scheinen verheerend zu sein. Der Gestank schlägt einem direkt entgegen, die Menschen sehen verwahrlost aus, ernähren sich von Abfall, den sie auf den oben beschriebenen Handkarren umherschieben oder vom Betteln. Die Kraft und vielleicht auch der Wille, sich aus diesem Elend zu befreien, scheint ihnen zu fehlen. Sie werden als Problem betrachtet, an den Rand gedrängt und sich selbst überlassen. Eines der vielen Probleme Serbiens, für das die Regierung keine Lösung kennt, für das es aber sicherlich auch keine einfache Lösung gibt.
Im Kontrast zu den Zigeunern steht das Geschäftsviertel Beograds, das zu den modernsten der Welt gehört. Am winzigen und wenig hektischen Bahnhof Beograds verabschiede ich die norwegische Familie und mache mich auf der Suche nach einem Bankomaten. Schliesslich verfüge ich über nicht ein kleines Stück Münze der serbischen Währung „Dinar“. Die Auskunft am Bahnhof ist zwar freundlich, aber so richtig verstehen tu ich sie nicht – und auch die Norweger konnten mir keinen Tipp geben, da es nur sehr wenige Banken gebe, die über diesen Service verfügten und sie auch nicht sicher seien, welche das momentan seien. Nach einem kurzen Marsch hinauf auf den Hügel, auf dem das Zentrum Beograds gelegen ist, sehe ich das erste Zeichen der westlichen Welt: es sollte nicht das letzte sein, in Beograd gibt es inzwischen mindestens vier Mc Donalds, nachdem sich Milosevic stets geweigert hatte, mit dem Westen zusammenzuarbeiten. In den letzten zwei Jahren, seit die Norweger zum letzten Mal in Beograd gewesen sind, muss sich sehr vieles verändert haben. Nach der Verhaftung Milosevic’ im Jahre 2000 wurde zwar wieder eine nationalistische Regierung gewählt, doch distanzierte sich diese offensichtlich vom sozialistischen Gedanken. Im Zentrum gibt es inzwischen nicht nur einen Mc Donalds, sondern auch Dutzende von Geldautomaten und ein Geschäftsviertel, das innert kürzester Zeit aus dem Boden gestampft worden sein muss. Laut Anschrift auf einer Boutique gibt es weltweit nur fünf Filialen von Tom Taylor Kleidern – in Beijing, Zürich, Wien, Hamburg und Beograd. Auch sonst scheinen alle Weltfirmen vorhanden zu sein, Miss Sixty lässt grüssen und Pepsi und Coca Cola liefern sich eine Schlacht, wer mehr der unzähligen Sonnenschirme sponsern darf, die die fast ebenso unzähligen hippen Strassencafes zieren.
Überhaupt zählt Beograds Innenstadt zu den Vorzeigeobjekten Europas. Die Trams zwar alt und verbeult, doch zeigen sich nebst Yugos schon einige Mercedes und BMWs, vor allem aber wirkt die Innenstadt herausgeputzt, sicher und einladend. Nebst der beschriebenen Ladenpassage stechen vor allem der grosse Park hervor, der riesig und gut gepflegt ist, inmitten von Ruinen der neuzeitlichen Burg spielen Jugendliche noch spätabends Basketball, wandeln Verliebte auf den baumumgebenen Wegen. Überall gibt es Getränke, Glace und vor allem Popcorn zu kaufen, die Menschen scheinen glücklich und zufrieden. Wer sich nicht hier befindet, bewegt sich wohl gerade am Ufer der Sava oder der Donau, der zwei Flüsse, die sich mitten in Beograd treffen und mit zum unvergleichlichen und sympathischen Charisma der Stadt beitragen. Denn unten am Fluss ankern die „floating Bars“, inzwischen gut zwei Dutzend Schiffe und Flosse, die Bars, Discos und Beachvolleyballfelder beherbergen und zum hippsten gehören, was man momentan in Europa finden kann. Angeblich sollen hier extra Djs aus London eingeflogen werden, um die heissesten Beats aufzulegen. Auch hier scheint das Geschäft zu boomen, da überall gehämmert und gestrichen wird, fast jeden Tag ein neues Schiff eröffnet.
Die Löhne und Preise in Serbien sind sehr niedrig, was es für uns Westeuropäer sehr einladend macht, sich auf diesen Flossen oder im Geschäftsviertel der Innenstadt zu vergnügen. Die Sicherheitslage ist unproblematisch, die Bars und Discos top, die jungen Frauen in der neusten italienischen Mode gekleidet, sexy und sympathisch, wie auch ein Artikel der Sonntags Zeitung vom 31. Juli 2005 besonders betonte. Zudem gibt es in der Innenstadt eine Strasse, die von den Einheimischen „Silicon Valley“ genannt wird, da dort die zur Schau getragenen Rundungen angeblich zu den Auffallendsten gehören sollen, was gewissen chirurgischen Eingriffen geschuldet werden soll.
Die Frage, die sich bei alledem stellt, ist natürlich die Folgende: wer sind diese Serben, die sich ein solches Leben in der Spassgesellschaft überhaupt leisten können, wie viele sind es und woher nehmen sie das Geld? Was mir ein junger Mann in Mostar (Bosnien-Herzegowina) berichtete, scheint mir auch hier zuzutreffen: der Krieg brachte nicht nur Verlierer, sondern eben auch Kriegsgewinner hervor. Zudem ist der Gedanke wohl nicht gänzlich von der Hand zu weisen, dass sich in Serbien eine hemmungslose Mafia breitgemacht haben könnte. Sicher ein weiterer Ursprung der Gelder sind zudem Auslandsinvestitionen von exilierten Serben. Insgesamt jedoch mag dieser Trug nicht darüber hinwegtäuschen, dass Serbien mit zu den ärmsten Ländern Europas gehört und ausserhalb Beograds (und natürlich auch grösstenteils innerhalb), das Wohlstandsniveau sehr tief ist, worauf ich noch zu sprechen komme. Gerade im Vergleich zu Bosnien-Herzegowina wird es schnell klar, dass es in Serbien eine sehr kleine Schicht sehr reicher Menschen gibt, eine noch kleine, aber wohl stetig sich vergrössernde Mittelschicht, der Wohlstand insgesamt aber deutlich niedriger ist als derjenige im Nachbarsland!
Während die Innenstadt herausgeputzt ist und sich entlang der Flüsse die floating boats und eine gepflegte Grünanlage ausbreitet, sind die Wohngebiete in Novo Beograd, dem neuen Teil immer noch trist. Dieser Stadtteil entstand erst nach dem Zweiten Weltkrieg und besteht vor allem aus grauen Wohnkasernen, Plattenbauten, die zwar zum Teil durch innovative architektonische Merkmale auffallen, insgesamt aber von schlechter Bausubstanz sind und nur geringe Lebensqualität bieten. In Warschau hatte ich einmal die Gelegenheit eine solche Wohnung von innen zu sehen – die Platzverhältnisse mehr als bescheiden, der Ausbaustandard gering, Isolation kaum vorhanden. Neue Bauten sind zwar am entstehen, doch sieht man nur wenige Baukräne, zumindest im inneren Bereich der Stadt wird nur wenig gebaut. Doch die Plattenbauten sind wohl nicht die schlechteste Form der Behausung. Wie bereits erwähnt ziehen sich den Bahngeleisen entlang Holz- und Wellblechhütten vor allem der Roma, die von aussen zwar zum Teil noch recht ansehnlich sind, die aber sicher nur einen sehr geringen Lebensstandard bieten. Wie die Flüchtlinge leben, von denen es mehrere hunderttausend geben soll (vor allem aus Kroatien, Bosnien, und dem Kosovo), konnte ich nicht herausfinden, doch wird auch ihre Lebenssituation nahezu unerträglich sein. Auch ist es schwer vorzustellen, wie die Menschen leben, die in den Strassen für ein paar Rappen gegrillten Mais verkaufen und deren Tagesumsatz wohl mehr als gering ist. Da Mais aber zu den Hauptnahrungsmitteln zu gehören scheint (auch in der Form von Popcorn, das es überall zu kaufen gibt), ist dieser Wirtschaftszweig vielleicht gar nicht so wenig lukrativ.
Zumindest im August scheint die serbische Landwirtschaft fast ausschliesslich Wassermelonen und Mais zu produzieren. Bauern kommen in die Stadt, vor allem aber versuchen sie ihre Produkte direkt ab Hof an den Überlandstrassen zu verkaufen. Dieses Bild ist von erschreckender Eintönigkeit. In gewissen Dörfern steht vor jedem Haus ein Wagen gehäuft mit Wassermelonen, die je nachdem per Kilo oder per Stück zu lächerlich niedrigen Preisen verkauft werden. Und doch kann man sich kaum vorstellen, dass sie sie loswerden – dafür sind die Mengen schlicht zu gross. Bei solcher Konkurrenz scheint sich die Mühe kaum zu lohnen und es fragt sich auch hier, wie die Menschen über die Runden kommen. Zwischen den Dörfern liegen ausgedehnte Mais- und Wassermelonenfelder, dazwischen unterbrochen durch ein Sonnenblumenfeld. Relativiert werden kann diese Beobachtung aber vielleicht dadurch, dass es sich auf eine Landstrasse im Westen Serbiens beschränkt und nicht bedeutet, dass es in Restserbien gleich aussieht – was aber durchaus möglich ist.