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Mostar

Die Busfahrt nach Mostar gestaltet sich bis kurz vor dem Ziel als wenig ereignisreich. Wir durchfahren waldige und gebirgige Gegenden von grosser Lieblichkeit, bis wir auf einer Ebene landen, wo der Wiederaufbau noch kaum vorangekommen ist. Zum ersten Mal fallen mir Flaggen auf – kroatische – die einerseits mutig das Bekenntnis der Bewohner zu ihrer Nationalität zeigen, andererseits aber auch abschrecken und ungute Gedanken hochkommen lassen. Sind dies Opfer oder Täter? Oft genug kann man diese Unterscheidung natürlich nur ungenügend treffen, doch stellt sich hier die Frage in ganz anderem Kontext: wird geflaggt aus Stolz oder aus Trotz? Will man damit zeigen, dass man auch hier bleibt trotz der ganzen Gräuel, die stattgefunden haben müssen, oder will man damit zeigen, dass das Land eigentlich den Kroaten gehört und die Bosnier (darunter ursprünglich katholische, in Bosnien lebende Kroaten, die zum Islam konvertiert sind) vertrieben werden müssen?

Einige Kilometer später durchfahren wir muslimische Gebiete, wie immer leicht zu erkennen an den vielen Minaretten, die noch im kleinsten Dorf den Himmel zu berühren suchen. Bald erreichen wir Mostar, die Stadt, in der der Krieg wohl am schlimmsten getobt hat. Zuerst bekämpften sich Serben und eine Koalition aus Muslimen und Kroaten, später schienen sich die beiden letzteren darauf besonnen zu haben, dass sie ja eigentlich doch auch verfeindet seien und der Krieg ging erst richtig los. Was erwartete mich in dieser Stadt, die durch den idyllischen Fluss Neretva geteilt ist und auf deren rechten Seite Kroaten, auf der linken aber Bosnier leben? Eine Situation, wie sie auch im Asterix-Band „der grosse Graben“ vorkommt, einfach viel schrecklicher und vor allem realer!

Der erste Eindruck ist wenig aussagekräftig, wie sich bald herausstellt. Eine kleine, staubige Stadt, gelegen in einem eher kargen Tal, das im ersten Augenblick nicht gerade wahnsinnig einladend scheint. Und dies nicht nur, weil wir gegen Sonntagmittag bei grosser Hitze ankommen. Ein Zimmer ist schnell gefunden und die Erkundungsreise kann losgehen. Als erstes überquere ich eine Brücke und mir tut sich ein atemberaubender Blick auf: Der Fluss ist eingelassen in ein steil abfallendes Flussbett, dessen Ufer gesäumt ist von im knackigsten grün gehaltenen Bäumen und Sträuchern. Zum Teil ist das Ufer felsig, musste sich das Wasser erst sein Bett graben, was mich sehr stark an Flüsse und Bäche in den Tessiner Alpen erinnert. Schweift der Blick nach rechts, verliert er sich irgendwann in der Ferne, bereits weit ausserhalb des Städtchens, schweift er nach links, scheint man wiederum nicht beinahe im Stadtkern zu stehen, sondern in einem fast schon einsamen Flusstal, das in Richtung Horizont von Häusern umgeben ist. 

Der Gang über die Brücke bringt mich in den Kroatischen Teil der Stadt. Das Leben am Sonntagnachmittag plätschert dahin, ab und an sitzen ein paar Leute vor einer kleinen Bar und trinken Bier oder Kaffee. Der katholische Teil wird überragt durch eine Kirche – und einem Kreuz, das sich weit in der Ferne auf der Spitze eines Berges (oder doch besser Hügels?) befindet. Was mich aber ziemlich aus dem Konzept bringt, sind die verschiedenen Moscheen, die sich auch in der kroatischen  Stadthälfte breit machen. Die Stadt scheint also doch nicht so eindeutig durch den Fluss getrennt zu sein, wie es die geographische Lage erlauben würde. Da die Moscheen den Krieg kaum überdauert haben dürften, werden sie wohl erst vor kurzem wieder neu errichtet worden sein. Was aber nicht bedeutet, dass sich die beiden Volksgruppen bald versöhnt haben sollen, wie mir ein junger muslimischer Mann versichert, der im Krieg mit dabei gewesen war und den es erst danach als Fremdarbeiter nach Oesterreich verschlagen hatte, wo er perfekt deutsch lernte. Seine Geschichte – er mochte nicht allzu viel erzählen – ist so tragisch wie typisch für diese Generation. Wobei ihn offensichtlich vor allem zwei Probleme beschäftigen: seine momentane Arbeits- und Perspektivlosigkeit und die Verarbeitung des Erlebten im Krieg. Er glaubt nicht daran, dass die Kriegsschäden bald vergessen sind. Wenn auch der Wiederaufbau relativ gut vorankommt, die Bilder des Schreckens werden in den Köpfen der Menschen für immer eingebrannt sein. Unabhängig davon, ob jemand selbst geschossen, Opfer oder Täter war, eine Unterscheidung die in diesem Krieg oft genug auf fatal vereinfachende Weise getroffen wurde.

Das Quartier um die berühmte „alte Brücke“ ist von atemberaubender Schönheit. Zuerst fallen erste Souvenirläden auf, viele kleine Kneipen und Bars, die trotz Hochsaison nur spärlich besucht sind. Auf der Brücke selbst tummeln sich dann aber Dutzende von Touristen, viele von ihnen westeuropäische Tagestouristen aus dem nahen Kroatien. Flussaufwärts befinden sich auf beiden Seiten der Brücke Restaurants, die einen herrlichen Blick auf die Brücke, aber auch auf das idyllische Flusstal erlauben. Während sich auf der „muslimischen“ Seite ein Restaurant auf einer Plattform befindet, ist dasjenige auf der „kroatischen“ Seite auf viele Stufen entlang des steilen Ufers verteilt, was ihm einen unglaublichen Charme verleiht. Man sitzt mitten im satten grün, unter Umständen alleine an einem Tisch, der nächste Tisch befindet sich dann etwas weiter oben oder unten. 

Die Brücke wurde dieses Jahr wieder eingeweiht, nachdem sie im Krieg zwischen kroatischen und muslimischen Bosniern zerstört worden war. Auch heute noch sind die Turmspringer eine wichtige Touristenattraktion und die Brücke scheint durchaus einen wichtigen Teil zur Versöhnung beizutragen. Viel wichtiger sind wohl jedoch die Touristen, die Geld bringen! In diesem zentralen Quartier scheint man in einer völlig intakten Welt zu leben, gesponsert von Coca Cola und einheimischen Biermarken. Doch Mostar ist weit entfernt davon, eine idyllische Oase zu sein, vielmehr trifft dies nur auf das nur wenige Häuser umfassende Quartier um die alte Brücke herum zu.

Nur wenige Schritte davon entfernt fällt mir ein UN-Mitarbeiter auf, der aus seinem gepanzerten Fahrzeug aussteigt, eine Foto von einigen am Boden sitzenden, ziemlich verwahrlosten wohl Obdachlosen schiesst und sich darauf wieder in sein Fahrzeug setzt. Was auf den ersten Blick wie penetranter Voyeurismus wirkt, könnte aber auch einen politischen Hintergrund haben. Nur wenige hundert Meter weiter die Strasse hinunter fällt mir ein Mann von vielleicht vierzig bis fünfzig Jahren auf, der in einer Ruine auf einer dünnen Matratze liegt und vor sich hin zu schluchzen scheint. Vielleicht ist das aber auch nur eine Einbildung, da es sich um eine Realität handelt, mit der ich mich bisher kaum konfrontiert sah. Trotz der grossen Armut, scheint es den Menschen materiell nicht katastrophal schlecht zu gehen, scheinen Hunger und Obdach für die meisten gewährleistet zu sein. Auch Bettler sieht man nur selten – vorwiegend in den touristischen Gegenden. Schon in Beograd, besonders aber in Bosnien fiel mir auf, dass es keine von mir so genannte „Wohlstandsarmut“ gibt. Mit diesem Phänomen umschreibe ich die eigentlich erstaunliche Tatsache, dass es in Zürich mehr Menschen zu geben scheint, die aufs Betteln angewiesen zu sein scheinen, die Abfallkübel nach weiter Verwertbarem durchwühlen etc. In Serbien ist es kaum denkbar, dass jemand freiwillig und ohne äussere Not, sich ein Leben in Armut sucht, wie es zum Teil Jugendliche in der Schweiz tun, um aus der Gesellschaft auszubrechen.

Ganz unvermutet stosse ich bei einem längeren Spaziergang plötzlich auf die ersten Komplettruinen Mostars. Bisher waren mir zwar schon viele Gebäude aufgefallen, die ausgehöhlt und von Bäumen und Sträuchern überwuchert waren oder ganze Strassenzüge mit Schusslöchern in den Wänden, doch dieser Anblick lässt mich erschauern. Fiel mir zuerst ein einzelnes Haus auf, merke ich bald, dass ein komplettes Quartier mitten im Zentrum dieser Kleinstadt weiterhin völlig zerstört ist. Die Bilder erinnern an das Berlin 1945 – ein ganzer Strassenzug mit ausgebrannten, nur noch aus den Grundmauern bestehenden Gebäuden. Zum Teil kann man noch Elemente der Inneneinrichtung erkennen, irgendwo weist ein in himmelblau gehaltenes Schild den Weg zum „Restoran“ im Untergeschoss. Am Rande dieses Quartiers sind neue Häuser entstanden, die dem Ganzen einen fast unwirklichen Touch geben. Irgendwo steht eine Tafel, die ein EU-Wiederaufbauprojekt ankündigt. Allzu weit ist man bisher aber nicht gekommen, denn die Fassade unterscheidet sich bis auf ein kleines Detail nicht von den umliegenden Ruinen: im zweiten Stock jedoch sieht man Fensterläden, Fenster und sogar die direkt zur Wohnung gehörenden Wände sind in weissestem Weiss gestrichen. Doch die Aussenfassade blieb unverändert, von unzähligen Maschinengewehrsalven durchlöchert, der Balkon der Wohnung darunter scheint Teil einer Auseinandersetzung bis zum Letzten gewesen zu sein.

Einige Schritte weiter befindet sich der Hauptplatz Mostars, dominiert durch ein Hochhaus, das ebenfalls nur noch im Grundgerüst besteht. Am Rande des Platzes spielen Männer Schach, vergnügen sich Kinder, im Park gleich dahinter treffen sich junge Liebespaare für einige ruhige gemeinsame Minuten oder Stunden. Auch das ehemalige Gymnasium befindet sich hier, von weitem sieht es recht erhaben und wenig beschädigt aus. Aus der Nähe merkt man aber schnell, dass die auffallenden Löcher nicht Teil der Architektur, sondern tatsächlich Granateneinschlagslöcher sein müssen. Insgesamt wirkt das Gebäude gut erhalten, doch gehe ich davon aus, dass es innen zerstört ist. Vielleicht wirkte es aber auch nur verlassen, weil es Sonntag war.

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