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Nach Kroatien

Nach einer kurzen Nacht fahren wir Montagmorgen früh mit einem hypermodernen Bus in Richtung der kroatischen Hafenstadt Split. Die Fahrt aus dem Talkessel hinaus erlaubt es uns, noch einmal Abschied von dieser tragischen Stadt zu nehmen. In der sanften Morgensonne kann man sich kaum vorstellen, dass dieses Idyll erst vor zehn Jahren eine der schlimmsten Höllen Europas gewesen war. Als ich den Blick aber weg vom Tal, hin zur Bergflanke richte, werde ich mir dessen gleich wieder gewahr: überall am Strassenrand stehen Schilder, die vor Minen warnen. Überall liegen gelbe Plastikbänder und es dauert eine Weile, bis ich deren Sinn verstehe. Sie markieren die Gebiete, die von Minen gesäubert wurden in Form von Wegen durch das Dickicht. Es erinnert an die Organisation einer Stadt: während die „Strassen“ von Minen gesäubert (oder zumindest kontrolliert) sind, weiss niemand, ob auf der Fläche, wo in diesem Vergleich die „Häuser“ stehen, noch Minen vergraben sind. Von diesen Hügeln musste die Stadt beschossen worden sein, wobei sich den Kämpfern im Prinzip der gleiche Anblick wie uns heute geboten haben muss. Eine unvorstellbare Vorstellung. 

Auf dem Pass angekommen, vergesse ich diese Bestürzung aber schnell, da sich uns ein mit kleinen Cumuluswolken verzierter, sonniger Morgen umgibt, der die liebliche Landschaft in einen goldenen Schein hüllt. So kurz kann der Weg vom Traumahaften zum Traumhaften sein! Über Nebenstrassen erreichen wir einige Zeit später den Grenzposten, der erstaunlicherweise mitten in einem weiten Tal liegt. Die Grenze verläuft tatsächlich so, als ob sie nicht zwei unterschiedliche Länder, sondern höchstens unterschiedliche Provinzen voneinander trennen würde. Im Grenzgebiet wohnen denn auch vorwiegend kroatische Bosnier. Vielleicht eine knappe Stunde später liegt es dann plötzlich vor uns: das Meer. Die Sonne brennt vom Himmel, was wir im gut klimatisierten Bus kaum merken. An der Küste angekommen, quälen wir uns durch Retortendörfer und –städte, die jetzt in der Hochsaison überquellen. Wiederholt bleiben wir im Stau stecken, was einem ersten Kulturschock gleichkommt, nach den geruhsamen Tagen in Serbien und Bosnien-Herzegowina. In Split haut es mich dann tatsächlich beinahe um – die Stimmung ist aggressiv, hektisch, unangenehm. Die Stadt ersäuft im Tourismus und ich entscheide mich sehr schnell, sie möglichst bald hinter mir zu lassen, obwohl die Altstadt zum Unesco-Welterbe gehört und sicherlich eine genauere Erkundung wert gewesen wäre. Die geplante Fahrt mit dem Schiff von Split nach Zadar fällt aus Zeit- und Organisationsgründen ins Wasser – es gibt keine offizielle Verbindung und die Fähre von Dubrovnik nach Rijeka, die auch Split und Zadar bedient, fährt selten und ist langsam. Dabei ist gerade diese Strecke der kroatischen Küste von einer unglaublichen Schönheit. Tausende kleinerer und grösserer Inseln zieren den Weg und laden ein zum Träumen.

So nehme ich für diese zweitletzte Strecke meiner Reise wieder den Bus, vorbei an einigen ganz hübschen, vor allem aber an vielen überlaufenen Dörfchen. Zadar selbst hat eine pittoreske Altstadt mit einer der schönsten Flaniermeilen entlang des Meeres, die ich je gesehen habe. Nach dieser zum Teil recht strapaziösen Reise, geniesse ich das Meer und die Ruhe, denn obwohl die Stadt nicht unbekannt ist, hat sie sich ihren Charme behalten und fühlt sich im Vergleich zu Split wie eine einsame Insel an. Abgesehen von der Altstadt ist Zadar aber eine Stadt wie viele andere, unspektakulär, Provinz. Meine Reise endet hier aus einem ganz bestimmten Grund: Der Autor Kurt Köpruner beschreibt in seinem Buch „Reisen in das Land der Kriege“ (Kreuzlingen 2003), wie schon lange vor der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens, Serben systematisch verfolgt wurden – und zwar in Zadar.

„Nach Cupes Schilderung war Folgendes passiert: In einem Vorort von Zadar sei eine Polizeiaktion abgelaufen, bei der ein Serbe habe verhaftet werden sollen, in deren Verlauf aber ein kroatischer Polizist erschossen worden sei. Wenig später sei es losgegangen: Eine Bande von etwa hundert Personen habe in einer zehn (!)  Stunden dauernden Aktion im Zentrum von Zadar und in der näheren Umgebung insgesamt hundertsechzehn serbische Geschäftslokale sowie Wohnhäuser zerstört. Man sei ganz systematisch vorgegangen, habe jeweils durch einen Trupp Schläger einen Strassenzug abgeriegelt und dann alles zertrümmert, was sich darin an Serbischem befunden habe; und zuletzt sei dann noch alles geplündert und ausgeräuchert worden. All das habe nicht nur vor den Augen der Polizei stattgefunden, diese habe die Operation sogar koordiniert! 

Ich sagte zu Cupe, dass ich in diesem Land mittlerweile ja manches für möglich hielte, aber so könne es nicht gewesen sein, so etwas wäre bei uns im Fernsehen gekommen, mindestens in einer Zeitung hätte ich darüber wenigstens eine kleine Notiz lesen müssen, wo doch täglich auch über viel unspektakulärere Zwischenfälle in Jugoslawien berichtet wurde. … Er lachte böse auf: „In euren Zeitungen steht doch nur, was für Schweine die Serben sind.“

Hier, am Rande der Krajina begann möglicherweise der Krieg. Aufgehetzt durch Nationalisten (der zur äussersten Rechten gehörende, kroatische Tudjman und der zur äussersten Linken gehörende, serbische Milosevic) kamen sich frühere Nachbarn in die Haare, genügte ein simpler Anlass, um nicht nur die Emotionen, sondern auch die Fäuste und Gewehre spielen zu lassen. Wer dabei den ersten Schuss abgab, ist von sekundärer Bedeutung. Da viele Serben in Kroatien, aber nur wenige Kroaten in Serbien lebten, musste es – zusätzlich angeheizt durch das historische Gedächtnis – die Serben als Minderheit innerhalb Kroatiens fast notwendigerweise als erste treffen. Mit der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens befanden sie sich von einem Tag auf den anderen in feindlich gesinntem Ausland, wurden sie plötzlich als Bürger zweiter Klasse behandelt. Eine einzige Provokation, egal von welcher Seite, musste genügen, um dieses Pulverfass zur Explosion zu bringen. Im ersten Krieg zwischen Kroatien und Serbien wurde Zadar durch die serbische und jugoslawische Armee zwar sowohl aus der Luft und mit Artillerie angegriffen, doch konnte sie ihre Zugehörigkeit zu Kroatien stets verteidigen. Die Schäden an der Stadt sind heute aber größtenteils beseitigt.

Kroatien befindet sich heute auf dem Weg in die EU, Slowenien hat diesen Schritt bereits geschafft. Bosnien-Herzegowina und sogar Serbien haben sich dasselbe Ziel gesetzt, doch sind sie noch weit davon entfernt. Kroatien scheint wirtschaftlich mit Griechenland mindestens gleichgezogen zu sein und auch politisch – wenngleich weiterhin ultranationalistisch – über grosse Stabilität zu verfügen. Dass sich Serbien permanent in einer Regierungskrise befindet ist zumindest in Beograd und den Teilen der Vojvodina, die ich durchfahren habe, nicht zu erkennen. Das Land ist arm, funktioniert aber sonst erstaunlich gut für ein Land, das über eine besetzte Provinz (Kosovo) verfügt, zahlreiche Flüchtlinge zu beherbergen hat und das nur über eine auf Milosevics SPS angewiesene Minderheitsregierung verfügt. Der oberflächliche Reichtum, den man vor allem in Beograd erkennen kann, ist dabei mit grosser Wahrscheinlichkeit zu einem Teil dem Wirken der Mafia zu schulden. Diese stellt vor allem in Bosnien-Herzegowina weiterhin ein enormes Problem dar. Dieses Land hat heute beispielsweise noch keine einheitliche Polizei, weshalb die organisierte Kriminalität – vor allem Drogen- und Frauenhandel – kaum an ihrem Tun gehindert werden kann. Wird es brenzlig, genügt das Überschreiten der Grenze zwischen den beiden Republiken (Republika Srpska und der bosnisch-kroatischen Föderation) und die Polizei muss die Verfolgung aufgeben. Wobei diese Grenze nur verwaltungstechnisch existiert, sie sich innerhalb des Gesamtstaates Bosnien-Herzegowina befindet und deshalb nicht kontrolliert wird. 

Die Lage auf dem Balkan bleibt also angespannt, doch zeigt dieser Augenschein, dass sich in diesen zehn Jahren einiges bewegt hat und die Situation – zumindest für den Aussenstehenden – nicht völlig hoffnungslos ausschaut. Das heisst aber leider nicht, dass mit einer schnellen Lösung der wichtigsten Probleme gerechnet werden kann.

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