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Flüchtlingskrise in Paris

Ja, es ist manchmal anstrengend mit Reyman. Aber manchmal bin ich auch echt froh um ihn. Natürlich war es ihm dann nach einiger Zeit langweilig geworden so alleine im Cafe Fosca. Ist ja auch nix passiert. Und so hat er mich dann doch mal noch auf eine Fototour begleitet. Und ja. Also der Reyman, der kennt da nix. Und als wir da an diesen Schlafenden vorbeigekommen sind, da nimmt er einfach die Kamera und hält voll drauf. Ich meine, mir war das ja so was von peinlich. Aber dann auch wieder: so eine Foto rüttelt auf und macht betroffen.

Thomas Leuthard hat einmal sein Bild eines kackenden Inders mit dem dokumentarischen Wert verteidigt. Das Bild dokumentiere den „Mangel an sanitären Einrichtungen in Mumbai“ (Leuthard, Seelenraub). Betrachtet man allerdings den Blick des betroffenen Inders, dann stellt sich die Frage nach Pietät durchaus. Immerhin wird er kaum mitbekommen haben, dass sein Bild nun allen zugänglich ist. Reymans Schlafender hat zwar nicht mal mitgekriegt, dass er abgelichtet worden ist, gleichwohl habe ich mich entschieden, ihn zu anonymisieren.

Das Bild – und erst recht die reale Vorlage – berühren viel mehr als andere Bilder von Obdachlosen. Dies hat vermutlich damit zu tun, dass uns „normale“ Obdachlose zugleich vertrauter und weniger vertraut sind: Vertrauter, weil sie zum Stadtbild fast jeder Stadt gehören, weniger vertraut, weil sie oftmals „anders“ sind – was ich explizit nicht wertend meine. Es sind meist Menschen vom „Rand“ der Gesellschaft, weshalb wir uns weniger mit ihnen identifizieren. Und manche haben Schrullen, die durchaus sympathisch sein können – aber eben auch distanzierend. So betritt man in Hamburg zwar quasi die „Wohnung“ dieses Obdachlosen, doch ist auch klar, dass er etwas „eigen“ sein muss.

Wenn man aber ein eng umschlungenes Pärchen auf dem nackten Asphalt liegen sieht, ohne Decke und ohne Gepäck, dann versprüht ein solches Bild eine viel stärkere Intimität. Die scheinen fern der Heimat wirklich nur noch sich zu haben und sich aneinander zu klammern – wo der Obdachlose zumindest im Klischee allein sein will oder halt zur Stadt gehört und hier seine Kumpels hat. Unabhängig davon, ob dieses Bild auch der Realität entspricht.

Aber zurück zum Titelbild. Darauf sieht man ebenfalls ein Pärchen. Von ihr sieht man allerdings bloss eine Hand und die dunkel lackierten Fingernägel. Auch etwas, was die Distanz zu eliminieren hilft: diese Fingernägel sind gepflegt und passen deshalb so überhaupt nicht in diese Strassenszene. Man kann sich auch gut vorstellen, wie er sie mit dem Pappdeckel zugedeckt hat, um sie so vor fremden Blicken zu schützen – eine Vorstellung, die natürlich auch falsch sein kann. Aber solche Details machen das Bild umso berührender.

Auf den ersten Blick erstaunlich ist allerdings, dass sich die beiden in einen gut ausgeleuchteten Hauseingang gelegt haben und doch ganz entspannt zu schlafen scheinen. So deute ich jedenfalls den Ausdruck seiner geschlossenen Augen (sofern geschlossene Augen überhaupt einen Ausdruck haben können). Vielleicht sieht das ja bei allen so aus. Auch wenn wir uns in einer schwierigen Situation befinden. Aber auch sein Mund scheint zu lächeln. Ein Traum? Ist er zufrieden, weil er etwas viel Schlimmerem entkommen ist?

Das Bild wirkt auch deshalb sehr intim, weil die beiden sich eine Art Bett erschaffen haben. Sich würdevoll gebettet haben, es sich fast schon gemütlich gemacht zu haben scheinen. Als ob sie in ihrer Wohnung liegen würden. Als Bettwäsche dient eine Kunststofffolie wie man sie zum Verpacken von Gegenständen verwendet. Sie könnte direkt aus dem Karton stammen, der einmal ein Gestell beherbergt hat. Der graue Pullover des Mannes wirkt in Zusammenhang mit der ebenfalls grauen dünnen Decke wie ein Pyjama. Nur knapp kann man erkennen, dass er darunter seine vielleicht einzige Jeans trägt. Immerhin scheint sein Kopf auf einem Koffer zu liegen, der wohl noch einige Habseligkeiten enthält.

Seine Augen und wie er daliegt, erinnern aber auch an einen Toten in einem Sarg. Wie aufgebahrt. Und das Licht, um seinen Nächsten noch einen letzten Blick zu ermöglichen. Den gut ausgeleuchteten Schlafplatz haben sie aber wohl aus Sicherheitsgründen gewählt. Wer es aus dem Nahen Osten bis nach Paris geschafft hat wurde mit nicht kleiner Wahrscheinlichkeit bereits ausgeraubt.

Damit kontrastiert das Bild aber auch mit den Sicherungsmassnahmen, die in Paris allgegenwärtig sind.

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