Es wird viel gesungen in Jerusalem. Am Gartengrab, dem angeblichen Grab von Jesus Christus singen wohl Evangelikale für den Frieden in Jerusalem. An der Klagemauer singen orthodoxe Juden, vielleicht für den Weltfrieden. Morgens um fünf ertönt der eigentlich sehr schöne Singsang des Muezzin, der zur Frömmigkeit aufruft, was vor allem deshalb etwas nervig ist, weil am Abend zuvor Jugendliche in der 24 Stunden Bar gleich neben meinem Zimmer bis kurz vor fünf lautstark Karaoke gesungen haben. Wo gesungen wird, herrscht Frieden, könnte man meinen.
Und in der Tat ist es eigentlich erstaunlich, dass in der letzlich sehr überschaubaren, extrem dicht bebauten Altstadt von Jerusalem vier verschiedene Kulturen beieinanderleben ohne dass es täglich „explodiert“. Nebst Juden und muslimischen Arabern gibt es ein Viertel der Armenier und eines der Christen. Da, wo heute der Vorplatz der Klagemauer steht existierte einst noch ein marokkanisches Viertel, das letztlich weichen musste.
Am sichtbarsten werden die durchaus vorhandenen Spannungen beim Tempelberg, zu welchem auch die Klagemauer gehört. Die Sicherheitskontrollen, um auf den Platz vor der Klagemauer zu kommen sind zwar relativ lasch, aber sie werden doch ernsthaft betrieben. Am morgen früh herrscht noch relativ wenig Betrieb, Juden mit ganz unterschiedlichen Kopfbedeckungen, die auch ihre Glaubensrichtung anzeigen beten und verfolgen klar vorgegebene Rituale. Viele wippen mit dem Körper, andere rezitieren aus der Thora, wieder andere berühren Blätter oder beobachten die Szenerie auf billigen, weissen Plastikstühlen.
Überthront wird die Klagemauer links durch den Felsendom, rechts durch eine einfache, moderne Brücke, die den Zugang zum Tempelberg ermöglicht. Dieser steht zwar unter israelischer Kontrolle, doch haben Nichtmuslime nur sehr beschränkten Zugang. Hier sind die Sicherheitskontrollen viel genauer, es wird vor allem auch darauf geachtet, dass Muslime nicht provoziert werden können, da der Tempelberg auch ein Symbol für den ganzen Nahostkonflikt ist. Hier war die zweite Intifada im Jahr 2000 ausgebrochen, hier kochen die Gefühle schnell hoch. Ein Mann vor mir hat eine Bibel dabei, die er zurücklassen muss, ob er seinen Holzkreuz-Schlüsselanhänger mitnehmen durfte, weiss ich nicht. Oben auf dem Tempelberg angekommen wird eine sicher über 50 jährige Frau darauf hingewiesen, dass sie nicht mit nackten Beinen den Platz betreten darf.
Dieser ist allerdings wirklich majestätisch. Auf diesem Plateau war vermutlich vor rund 3000 Jahren ein erster jüdischer Tempel errichtet worden, der wie auch der zweite Tempel zerstört wurde. Um 690 wurde dann der heute weithin sichtbare muslimische Felsendom errichtet, der vor allem für streng orthodoxe Juden offensichtlich ein Fremdkörper ist: während sie an der Klagemauer die Zerstörung ihres alten Tempels betrauern, thront der Felsendom stolz über Jerusalem. Juden ist es untersagt, den Tempelberg zu betreten, wie ein Schild beim Eingang betont: „According to Torah Law, entering the Temple Mount area is strictly forbidden due to the holiness of the site“. Grund dafür ist wie erwähnt die explosive Lage.
Und so bin ich ein klein wenig erstaunt, als ich eine Gruppe von Juden auf dem Plateau sehe. Nur ein klein wenig, da ich von solchen Provokationen schon gelesen hatte. Streng orthodoxe Juden wollen mit solchen Besuchen zeigen, dass auch der Tempelberg – wie das ganze heilige Land – ihnen gehöre. Die Gruppe von vielleicht zwanzig Menschen wird von mehreren Soldaten begleitet, damit die Situation nicht ausser Kontrolle gerät. Dies gelingt insofern, als am heutigen Morgen sowieso nur wenige Menschen anwesend sind und der Tempelberg nur von 7:30-10:00 Uhr für Nichtmuslime geöffnet ist. Ohne Gretchenfrage kommt hier keiner rauf!
