Von Nablus geht es weiter nach Jenin. Die Fahrt dauert fast eine Stunde, ich habe die Distanz unterschätzt. Nervig sind die Geschwindigkeitsschwellen, die den Bus alle paar Minuten zu einem beinahe Notstop nötigen. Oder haben die Schwellen mit der Besatzung zu tun? Denn diese war bislang für uns Aussenstehende nie direkt zu spüren. Ganz anders als für die Einheimischen – und da steht Jenin an vorderster Front.
Während die Palästinenser aus Hebron für ihre Geschäftstüchtigkeit bekannt sind und sich während der zweiten Intifada nach dem Jahr 2000 möglichst aus dem Konflikt rauszuhalten versuchten, stammten viele Selbstmordattentäter, die sich in Israel in die Luft sprengten aus Jenin. Respektive, um genau zu sein, aus dem Flüchtlingslager von Jenin. Dieses war im Jahr 2002 von der israelischen Armee dem Erdboden gleichgemacht worden, Bilder, die ich davon gesehen hatte haben sich mir bis heute eingeprägt. Und dieses Flüchtlingslager werden wir besuchen.
Zuvor aber noch einige Informationen rund um das Thema Flüchtlinge. 1947 hatte die UNO das Gebiet des heutigen Israel/Palästina in zwei Teile geteilt, ein Teil für einen künftigen Staat Israel, ein Teil für einen künftigen Staat Palästina. Israel akzeptierte dieses Angebot, die umliegenden arabischen Staaten verständlicherweise nicht und es kam zum Krieg. Während dieses Krieges wurden hunderttausende Palästinenser (Araber) aus dem Gebiet, das künftig Israel sein würde vertrieben. Sie siedelten sich in Flüchtlingslagern an, teilweise im benachbarten Ausland (Libanon, Syrien, Jordanien), teilweise in der Westbank, dem geplanten künftigen Palästina. Weitere Flüchtlinge kamen nach dem Krieg von 1967 hinzu.
Diese Flüchtlinge errichteten ursprünglich Zelte und hofften, innert weniger Tage oder Wochen in ihre Heimat zurückkehren zu können. Als offensichtlich wurde, dass dies nicht geschehen würde, wurden die Zelte durch Wellblechhütten ersetzt, später durch „normale“ Häuser, weshalb die Flüchtlingslager heute kaum noch zu unterscheiden sind von „normalen“ Städten. Gleichwohl ist die Unterscheidung von grosser Bedeutung.
So erhalten palästinensische Flüchtlinge im Libanon beispielsweise weder einen libanesischen Pass, noch die Erlaubnis offiziell ausserhalb der Flüchtlingslager zu arbeiten. Ziel dieser Massnahmen ist es, die Flüchtlinge zum Verlassen des Libanon zu bewegen. Innerhalb der Westbank (dem möglichen künftigen Palästina) wiederum bietet der Flüchtlingsstatus diverse Vorteile. So werden Flüchtlinge (und deren registrierte Nachkommen) durch die UN verwaltet und besuchen spezielle Schulen, haben eine spezielle Gesundheitsversorgung etc. Dies ist oftmals durchaus ein Privileg, das sie verlieren würden, würden sie sich ausserhalb des Flüchtlingslagers ansiedeln.
Die Flüchtlingslager innerhalb der Westbank unterscheiden sich deshalb vor allem formal von anderen Stadtvierteln. In den meisten Städten der Westbank gibt es 3 Flüchtlingslager, in Jenin eines. Ein klein wenig soll sich dieses aber von anderen Stadtvierteln abheben – es gibt kaum Strassen, sondern vor allem Gassen, die die Häuser voneinander trennen. Dies erklärt sich dadurch, dass diese Häuser auf den „Grundstücken“ der ehemaligen Zelte erbaut wurden und Familien benachbarte „Grundstücke“ vereinten. Die Distanz zwischen den Zelten war damals allerdings klein.

Im Lager, das eben einfach ein armer Stadtteil ist begegnen wir sogleich Mohammed und Mohammed. Dieser Name wird hier sehr häufig vorkommen in Anlehnung an den muslimischen Mohammed, da die Menschen in den Palästinensergebieten meist streng religiös sind – auch wenn die Kleidungsordnung noch recht liberal ist. Kopftuch trägt zwar fast jede Frau, Burkas sind dagegen sehr selten zu sehen.

Während der „linke“ Mohammed sehr gutmütig und eher schüchtern ausschaut, wirkt der „rechte“ Mohammed wohl nicht nur wegen seiner Narbe über dem Auge etwas verschlagen, vom Leben gezeichnet, auf mich auch etwas aggressiv. Vielleicht interpretiere ich hier zuviel hinein, aber wie erwähnt war das Flüchtlingslager 2002 zerstört worden, wohl in etwa zur Zeit als Mohammed geboren wurde. Hass und Aversion gegen die Besatzung werden hier deshalb sehr weit verbreitet sein, wobei dies nicht verallgemeinert werden darf.
Viele Palästinenser fordern ein Ende der Besatzung, akzeptieren aber die Existenz Israels in den Grenzen von 1967 (wie sie heute offiziell völkerrechtlich anerkannt sind). Allerdings pochen viele Palästinenser auf das völkerrechtlich verbriefte Recht auf Rückkehr für die Flüchtlinge, eine Forderung, die Israel unmöglich akzeptieren kann. Denn inzwischen gibt es über 7 Millionen anerkannte palästinensische Flüchtlinge – würden diese nach Israel zurückkehren, gäbe es dort sofort eine palästinensische Mehrheit, was im definitionsgemäss jüdischen Israel natürlich nicht geht.
Im Flüchtlingslager treffen wir auf viele Kinder für die wir eine spannende Abwechslung sind. Schnell sind wir umringt, sie wollen unsere Namen wissen und sagen uns den ihren. Sie posieren für Fotos und wenige Minuten später sind wir wieder weg, nicht ohne Dutzende „I love yous“ von den kleinen Mädchen erhalten zu haben.

Dies weist auf eine weitere Problematik hin, die in Jenin besonders spürbar ist: das Vorbild Westen. Auf der einen Seite versuchen viele Menschen Halt in der Religion zu finden und gibt es vor allem im ländlichen Palästina noch Regeln,die uns sehr mittelalterlich erscheinen. So gilt beispielsweise Homosexualität als genetisch veranlagt, was dazu führt, dass Geschwister von geouteten Homosexuellen kaum noch heiraten können. Ehen werden in der Regel von den Eltern arrangiert und je nach Braut muss ein hoher Preis bezahlt werden. Nicht zu heiraten ist allerdings auch keine Alternative, da dies von der Gesellschaft nicht wirklich akzeptiert wird.
Gerade in Jenin finden sich aber auch überall Symbole des Westens wie die Kleidung der Mädchen oder das folgende Bild zeigen:

Geht man durch einen Souk fallen immer wieder westliche Symbole auf, Micky Maus, Spongebob etc. Westliche Marken sind überall präsent, vor allem aber wird gerne mit Bildern von weissen, erfolgreichen Menschen geworben. Die Sehnsucht nach der weiten Welt kontrastiert mit der unglaublich konservativen, ja reaktionären Gesellschaftsordnung, wie sie in vielen arabischen Gebieten auch ohne Besatzung vorherrscht. Diese Spannung prägt die Menschen, die von vielen Israeli als blosse Terroristen und böse Menschen betrachtet, von unabhängig Reisenden aber fast ohne Ausnahme als äusserst hilfsbereit und gastfreundlich beschrieben werden. Eine Gastfreundschaft wie sie üblicherweise weder in Israel noch überhaupt im „Westen“ zu finden ist.