Bruce und Samuel sind alles andere als dumm und definitiv auch keine Monster. Insofern hat Bruce sein Ziel erreicht, denn genau davon wollte er uns überzeugen. Bei Emilio hingegen ist zumindest unklar, ob er wirklich der Hellste ist. Wobei, auch Emilio hat mal als Anwalt gearbeitet. Und wenn man sein Haus anschaut, das er mit seiner Familie bewohnt, war er definitiv nicht völlig erfolglos. Meinen Geschmack trifft er mit der Einrichtung allerdings nicht, viel zu opulent, viel zu viel Tand, der sich in den letzten Jahrzehnten angesammelt hat, seit Emilio hier lebt.
Dass er ursprünglich aus Italien stammt, nimmt man ihm auf den ersten Blick ab. Schon lange bevor er von Mussolini schwärmt und den Macho heraushängen lässt. Doch seit da ist es lange her und er ist in der ganzen Welt herumgekommen, bevor er sich in dieser jüdischen Siedlung mitten im Westjordanland niedergelassen hat, die nach internationalem Recht illegal ist. Doch das kümmert Emilio nicht, denn er hat hier seinen Frieden gefunden, schliesslich sei das das von Gott versprochene Land und er fühle sich erst hier zuhause, vor allem wenn er den Bäumen beim Wachsen zusehen könne.
Uns geht das offenbar anders, denn in der Stube ist es eisig kalt und es ist nicht leicht, seinen Ausführungen zu folgen und nicht abzuschweifen. Gerade aktuell sind für ihn Forschungen rund um Pangea, den Urkontinenten. Man habe wissenschaftlich bewiesen, blablaba und dann zeigt er uns einen Computerausdruck und es wird offensichtlich, worum es ihm geht: im Zentrum Pangeas soll Jerusalem gelegen haben. Allerdings echauffiert sich Emilio überraschend frech gegenüber Gott, der diesen Landstrich besser den Deutschen gegeben hätte – die hätten auch etwas daraus gemacht, anders als die Juden, wo zwei Juden zehn Meinungen hätten.
Auf den Hinweis, dass das jahrmillionenalte Pangea aber der Bibel widersprechen würde, die von einem Erdalter von 5778 Jahren ausgehe, meint er lapidar, dass für Gott ein Jahr natürlich Millionen Jahren entspreche.
Nein, mit Emilio kann man nicht seriös diskutieren, er gehört zur Konsorte Verschwörungstheoretiker der üblen Sorte und hat dafür selbstverständlich ein umso grösseres Sendungsbewusstsein. Aber ich bin auch der festen Überzeugung, dass Emilio das viel kleinere Problem für den Frieden im heiligen Land ist als Bruce und Samuel. Dies zu sagen tut mir allerdings weh, denn ich mag beide viel besser als Emilio. Und besonders Bruce kann man eigentlich gar nicht nicht mögen.
Bruce treffen wir als Ersten. Er macht ein paar halbcoole Sprüche, aber so ein Kennenlernen ist immer schwierig. Nach kurzer Zeit aber ist klar, der ist in Ordnung. Scheinbar. Bruce sieht man nicht an, dass er strenggläubiger Jude ist. Er ist vielleicht um die 60 und trägt eine unauffällige Schildmütze. Er lacht viel, kommt sofort mit allen ins Gespräch und man würde nicht auf die Idee kommen, dass dieser Mann – ich hoffe ich habe dies nicht falsch verstanden – in einer vermutlich selbst nach israelischem Recht illegalen oder höchstens halblegalen jüdischen Siedlung lebt, in einem Containerdorf, wo ein paar meist jüngere Männer einen Hügel im Westjordanland „besetzen“ und woraus schon viele später legalisierte Siedlungen entstanden sind.
Wenn es um Religion geht, ist Bruce plötzlich starrsinnig, ansonsten würde er besser in eine Hippiekommune passen, würde man in ihm eher einen allmählich gealterten, aber durchaus jung gebliebenen Surfer sehen, der sich auch noch mit 60 in die Wellen wirft. Bruce ist gesellig, er kann andes als Emilio zuhören, er nimmt Argumente auf, er macht sich (zu!) viele Gedanken und will die Welt verbessern. Dass er selbst mit seinem Handeln die Welt unsicherer macht, das kann Bruce nicht nachvollziehen, er sieht in den jüdischen Siedlungen nicht den Hauch eines Problems. Und das meint er ehrlich, wobei er bei verschiedenen Argumenten unsererseits durchaus ins Denken kommt – und ich ihm mancherorts recht geben muss, da gerade in diesem Konflikt beide Seiten oft viel zu einseitig sind.
Vorwerfen kann man ihm vielleicht seine unglaubliche Naivität, aber auch diese scheint echt zu sein. Er verteufelt den Oslo-Friedensprozess (wo ich ihm zwar grösstenteils zustimme, aber aus völlig anderen Gründen) und wäre dafür, alle Mauern und Checkpoints aufzuheben. Als Siedler im Westjordanland kann er nicht für eine Zweistaatenlösung sein (wir haben nicht darüber gesprochen), sondern er möchte einfach mit all seinen auch arabischen Freunde, die er definitiv hat in Frieden zusammleben können wie es vor dem Friedensprozess möglich gewesen war. Er wirkt auf mich wie ein typischer Kibbuzkommunist, der nach Israel gekommen ist, um etwas Neues zu schaffen und der sich nun in einem Konflikt wiederfindet, den er vielleicht sogar mitverursacht hat, den er aber keinesfalls gewollt hat.
Die Zeiten des scheinbar gleichberechtigten Zusammenlebens sind heute aber vorbei. Zum einen, weil die in der Westbank lebenden Palästinenser sich nicht mit der Beherrschung durch Israel abgeben wollen und werden, zum anderen, weil zu viele Juden in Israel es als ihren göttlichen Auftrag sehen, die Westbank zu besiedeln. Der Sicherheitsaspekt wird von Israel viel zu oft ohne Grundlage vorgeschoben, letztlich geht es darum, dass wohl für eine klare Mehrheit von Juden ausser- und innerhalb Israels die Westbank als „Judäa und Samaria“ den Juden von Gott versprochen wurde und ihnen gehört. Sie sehen deshalb auch die Besatzung nicht als Besatzung, sondern als Befreiung eines Gebiets, das von Arabern besetzt wurde, was historisch definitiv nicht haltbar ist.
Die Westbank darf aus religiösen Gründen kein eigener, nichtjüdischer Staat Palästina werden. Deshalb wird heute noch intensiver gebaut, hat sich die Anzahl jüdischer Siedlungen in der Westbank seit dem Friedensprozess 1995 vervielfacht. Es gibt angeblich Pläne der aktuellen Regierung die Siedlungen in den nächsten Jahren mehr als zu verdoppeln – ein irrer Plan, vor allem weil viele Siedlungen auf der „falschen“ Seite der Mauer entstehen würden, was den Bau der Mauer umso absurder macht. Und Israel baut auch neue Strassen, um die Trennung zwischen Palästinensern und Juden voranzutreiben, Ziel scheint es zu sein, dass zwei völlig getrennte Gesellschaften auf dem gleichen Stück Land entstehen sollen – genau das, was Bruce nicht möchte und was keine langfristige Lösung sein kann. Und so gibt es angeblich sogar Pläne die Palästinenser auf die Sinaihalbinsel umzusiedeln. Auf Judäa und Samaria zu verzichten scheint bei vielen Juden schlicht nicht denkbar zu sein. Und so zitiert Bruce auch einen Kollegen, der nicht versteht, warum Bruce sich immer wieder mit „Ungläubigen“ abgibt und ihnen seine Sicht der Dinge nahezubringen versucht: „Build, don’t talk“. Vollendete Tatsachen schaffen ist alles was zählt.
Aus der Aussensicht besonders pervers ist, dass viele jüdische Siedlungen, ja, sogar wesentliche Teile der Sperranlage (Mauer) von Palästinensern aus der Westbank gebaut wurden und werden. Was Bruce nicht als Problem, sondern als Teil der Völkerverständigung sieht. Es gebe sogar Palästinenser, die am muslimischen Sonntag in die Siedlung kämen, um zu bauen. Was er als Beleg dafür sieht, dass es eigentlich gar keine Spannungen zwischen jüdischen Siedlern und Palästinensern gibt. Auf den Einwand, dass diese Arbeiter kaum Alternativen hätten reagiert er mit einem klassichen Eigentor – und sieht es wohl auch gleich ein. Denn wie gesagt, dumm ist er nicht. Er bringt das Beispiel eines Universitätsprofessors, der zusätzlich auf der Baustelle arbeite – weil er so mehr Geld verdiene. Sagt es und merkt wohl gleich, dass das ja genau zeigt, dass der Professor dies für das Geld tut – und nicht, weil er so Spass daran hat Juden eine Wohnung auf einem Gebiet zu bauen, das auch nach internationalem Recht ihm oder zumindest seinem Volk gehört.
Auch wenn Bruce zu den 200 Prozentigen gehört, er hat auch viele Schicksalsschläge hinnehmen müssen. Er hat mehrere Freunde bei Attentaten durch Palästinenser und über 15 Familienmitglieder während des Holocausts verloren. Wohl gerade dadurch ist er Hin- und Hergerissen zwischen seiner jüdischen Tradition, die ihn quasi dazu verpflichtet, dem angeblichen Willen Gottes zu entsprechen und hier zu siedeln – und seinem gutmütigen Naturell, niemandem etwas zuleide tun zu wollen. Doch beides schliesst sich inzwischen aus, was Bruce ebenfalls an diesem Morgen mit einer Anekdote verdeutlicht: ein arabischer Kollege von ihm hatte bislang stets seinen Handschlag erwidert – letzte Woche zum ersten Mal aber nicht mehr mit den Worten „du hast meinem Volk sein Land gestohlen, dir gebe ich nicht die Hand“. Bruce ist ernsthaft verwirrt und enttäuscht und versteht diese Reaktion nicht – schliesslich wurde angeblich kein einziger Palästinenser enteignet, sondern wurden alle Siedlungen auf „neutralem“, auf Regierungsland gebaut. Dass dies zum Einen kaum stimmt ist hier weniger wichtig als dass Bruce wirklich nicht versteht, dass er mit seinen Handlungen diesen Konflikt anheizt und eine Lösung verunmöglicht.
Kommen wir noch kurz auf Samuel zu sprechen. Samuel ist Arzt und sicher eine Autorität in seiner Community. In seiner Stube sind ein grosser und ein sehr grosser Tisch nebeneinander angeordnet, er scheint viel Besuch zu haben. Und er spricth auch wie ein Mann, der sich gewohnt ist, das letzte Wort zu haben. Wir fragen, er antwortet, wobei das so auch wieder nicht stimmt. Wie ein guter Arzt kann Samuel zuhören und ich würde keine Sekunde daran zweifeln, dass er seinen hippokratischen Eid ernst nimmt und im Fall des Falles auch Palästinenser behandeln würde. Samuel ist zudem unglaublich belesen, zitiert Voltaire und Plato, kennt sich in der Weltgeschichte aus, flechtet in seine Erörterungen Geschichten und Anekdoten ein, auch Samuel ist wie Bruce definitiv kein Monster.
Aber wenn es zu Palästina oder Religion kommt ist auch sein Blickwinkel unglaublich eng. Auch er sieht beim besten Willen nicht, dass sein Handeln mit dazu beiträgt, dass es für den Nahostkonflikt keine Lösung gibt. Auch er betont, dass er als Jude die Pflicht habe, sich hier anzusiedeln, auch er richtet sein Leben an der Thora, an den fünf Büchern Mose aus. Da nützt es nichts, dass er Humor hat, viel lacht, vielleicht nicht ganz so positiv jovial rüberkommt wie Bruce. Auch er ist letztlich ein Fundamentalist und im Gegensatz vielleicht sogar zu Emilio mitverantwortlich für den sinnlosen Konflikt zu machen, da Samuel die Intelligenz und Autorität hätte, um hier einzugreifen. Aber auch er ist letztlich ein Opfer der Umstände, Opfer einer Kultur, die Menschen in gut und böse einteilt.
Sehr schön macht dies einmal mehr Bruce klar. Er hat für sich die Formel entwickelt, dass nur einer von 1000 Arabern böse sei. Aber bei rund fünf Millionen Palästinensern sind das dann doch 5000 böse Menschen. Bei den Juden hingegen gebe es vielleicht einen bösen auf eine halbe Million. Also gut 10 Böse Juden in Israel. Dabei unterschlägt er, dass der „böse“ Araber vor allem deshalb beispielsweise zum Terroristen wird, weil jemand aus seiner Familie durch die israelische Armee getötet wurde (der Blutzoll liegt bei rund 10:1 zum Nachteil der Araber), weil sein Dorf plötzlich durch eine jüdische Siedlung vom Feld getrennt wurde, weil er miterleben musste wie sein Haus unwürdig durch die israelische Armee durchsucht wurde, weil er selbst einmal zu oft gedemütigt wurde an einem israelischen Checkpoint etc. All dies sind zumindest auch Folgen der Siedlungspolitik für welche Bruce, Samuel und Emilio eine grosse Mitverantwortung tragen. Sie mögen keine Monster sein, aber ihr Handeln und Tun gebiert monsterhaftes ohne dass sie sich überhaupt einer Schuld bewusst sind.