Nachdem ich den bislang südlichsten Punkt meiner Reyse erreicht habe, geht es wieder in Richtung Norden mit Ziel Detroit. Es geht abermals über den Ohio River, wo ich auf der Seite von Cincinnati (Ohio) eine kurze Pause einlege. Dort hat es eine äusserst attraktive Uferanlage mit Schaukelsesseln und schönem Ausblick. Bevor ich mich wieder aufmache, will ich noch aufs Klo.
Für einen Europäer ist die „Restroom“-Situation in den USA fast schon unfassbar. Es hat überall Klos. In New York war ich mehr als überrascht wie viele öffentliche „Bathrooms“ es gibt, auch auf den Biketrails ist der Gang in die Büsche eigentlich kaum je nötig. Noch unfassbarer aber ist, dass die Klos (fast) ohne Ausnahme gut bis extrem gut gepflegt sind. Schon auch Plumpsklos dazwischen, aber dennoch sauber. Auch auf jeder Baustelle hat es mindestens ein Dixie-Klo – und keines davon ist je abgeschlossen. Und selbstverständlich sind alle Klos ohne Ausnahme immer kostenlos. Respekt.
Ich versuche also die Klotür im Park von Cincinnati zu öffnen und bin erstaunt: geschlossen. Von innen ertönt eine Stimme: „occupied“. Ich schwinge mich wieder auf den Sattel, da ich weiss, dass es noch andere Möglichkeiten gibt und schon ertönt die Spülung. Gleichwohl fahre ich weiter. Beim nächsten Klo hat es aber einige Obdachlose und irgendwie habe ich – sicherlich unbegründete – Bedenken, mein vollbeladenes Bike für einen Augenblick stehen zu lassen. Ich fahre deshalb zurück und inzwischen ist es frei. Auch hier lungert ein Typ in der Nähe, den ich nicht richtig einschätzen kann, aber geht ja schnell.
Ganz kann ich mich noch nicht von der Uferpromenade lösen und setze mich nochmals in eine Schaukel. Etwas später will ich losfahren, aber nach ein paar Momenten nervt mich mein seit einiger Zeit quietschender Sattel und ich entscheide mich, kurz anzuhalten und die Federung zu ölen. Das Öl ist in meiner grossen Tasche, der Versuch es irgendwie rauszupulen funktioniert nicht wirklich. Also Tasche weg vom Gepäckträger, dauert 30 Sekunden, keine Sache.
Ich öle die Sattelstütze (was nichts bringen wird) und packe alles wieder ein, als mich ein Mann anspricht, der einige Meter von mir entfernt sitzt. Er habe eine etwas seltsame Bitte, ob ich ihm ein T Shirt schenken könne, seines sei schon alt und dreckig.
Ich schaue ihn etwas genauer an und natürlich ist es der Typ, den ich beim WC beobachtet hatte und der das Klo direkt vor mir benutzt hatte. Hat er mich verfolgt? Spielt das eine Rolle? Eine schnelle Entscheidung muss her. Ich überlege kurz, ja, bislang habe ich erst 50 Prozent meiner eingepackten T Shirts verwendet (nein, mehr als eins…), aber ich bin ja noch lange „on the road“. Ich entscheide mich, ihm kein T Shirt zu geben, nicht zuletzt, weil sie alle aus Merinowolle sind, also extra gekauft und nicht so leicht nachkaufbar.
Ich packe den Rest ein und schnalle die Tasche wieder auf dem Gepäckträger fest, gehe zu ihm und gebe ihm 10 Dollars. Das reicht definitiv für ein T Shirt. Sollte das sein grösster Wunsch sein, kann er sich damit eins kaufen – und sonst halt was anderes, auch egal. Wir sprechen noch ein wenig, er stammt aus Kanada, spricht auch französisch, ich frage dann aber nicht nach, wie er hier gelandet ist und was er hier tut. Offensichtlich ein hartes Schicksal.
Ich fahre weiter und bleibe in Gedanken noch ein wenig an diesem Moment hängen. Die Frage war ehrlich und so wie ich diesen noch jungen Menschen einschätze, hat er viel Schlechtes erlebt, ist aber selber ein herzensguter Mensch und versucht sich irgendwie durchzuschlagen. Zu diesem Eindruck komme ich unter anderem lustigerweise dadurch wie er auf meinen Versuch reagiert hat, die WC Tür zu öffnen. Wie schnell die Spülung gerauscht hat. Er schien irgendwie schuldbewusst, dass er das Klo besetzt hatte und wollte es so schnell als möglich wieder freigeben. Tönt seltsam.
Kurz überlege ich, ob die Frage nach einem T Shirt (oder was anderem) „sein“ Trick war, um an Geld zu kommen (was ich völlig OK fände), glaube es aber nicht. Er sieht mich wie ich meine Tasche auspacke, sieht wie viele Dinge ich da drin habe und ein frisches T Shirt für ihn könnte ja dabei sein. Spontane Frage aus der Situation heraus. Und ja, selbstverständlich hätte ich auf ein T Shirt verzichten können, problemlos. Und ich hätte auch problemlos einen Ersatz dafür gefunden wenn nötig. Und nächstes Mal hätte ich vielleicht doch noch zwei, drei Fragen mehr stellen können, einfach mit Vorsicht, ohne zu drängen. Aber solche Schicksale interessieren mich sehr.
Nur schon, weil ich so unfassbar privilegiert bin mit mehreren T Shirts durch die USA zu reisen. Und ich merke, dass vielleicht schon bald der berühmte Moment kommt, wo ich Ballast abwerfen werde. Ich habe zwar sehr bewusst gepackt und wirklich auf vieles verzichtet und doch ist mein Gepäck nicht nur gross und schwer, ich habe bereits einen Plastiksack voller Dinge, die ich wohl nicht benötigen werde. Vielleicht aber ja doch… Jetzt weiss ich: es gibt andere, die manches viel dringender brauchen.
Spannende Reflexion anhand einer „gewöhnlichen“ Situation aus deinem Alltag. Danke für den Beitrag 😊