Mir enteilt die Gegenwart. Eigentlich war ich schon gestern in Middletown und eigentlich hätte ich auch dort übernachten wollen. Aber das einzige Hotel (Self Checkin, in Middletown gibt es keine Jobs…) war nicht mehr buchbar und so musste ich meine Pläne ändern.
Middletown ist die Stadt in der JD Vance aufgewachsen ist. JD Vance, der von Donald Trump gewählte mögliche künftige Vizepräsident der USA. Berühmt geworden ist er durch seine Autobiographie „Hillbilly Elegy“, die ich in den letzten Tagen vielleicht zu einem Drittel nochmals gelesen habe. Man erfährt einiges über die „Hillbillies“, die weisse Arbeiterschaft des ehemaligen „Coal Country“, die grossmehrheitlich zu Donald Trump hält. Vor allem aber viel über seine Familie, die eben in Middletown gelebt hat.
Trump hat Vance natürlich nicht zufällig gewählt. Obwohl Vance über kaum politische Erfahrung verfügt, repräsentiert er eine Gruppe von Menschen, die die Wahlen entscheiden könnten. Möglicherweise ein geschickter Schachzug, möglicherweise auch nicht.
Das soll im Moment auch gar keine Rolle spielen, denn es geht um Middletown. Von Cincinnati bis kurz vor Middletown hat es einmal mehr schöne Radwege, ruhige Strassen, doch da muss ich auf eine halbe Autobahn einschwenken. Die kurz darauf wegen einer Baustelle einspurig geführt wird. Unschön. Eine Meile den Verkehr aufhalten oder mit wenig Abstand überholt werden. Ich wähle deshalb einen grossen Umweg.
Der hat es mal wieder in sich. Zuerst geht es vorbei an Parks, schönen Häusern mit Umschwung, sicherlich eine wohlhabende Gegend. Dann gehts links auf einen zum Glück weniger befahrenen Highway, vorbei an Industrie und später an meist doch eher ärmlichen Gebäuden. In einer solchen Nachbarschaft ist Vance wohl aufgewachsen. Ich fahre weiter in Richtung Zentrum und schaue mir dieses etwas genauer an, nicht zuletzt weil Vance es als ziemlich verlassen und „shabby“ beschreibt.
Ganz so schlimm erscheint es mir auf den ersten Blick nicht, es hat einige nette Geschäfte, aber keinen Lebensmittelladen, kaum Restaurants oder Cafes, viele Läden mit Autoteilen etc. Einige Geschäfte sind auch seit langem geschlossen. Der Ort wirkt auf mich nicht völlig heruntergewirtschaftet, aber sowohl nördlich wie südlich gibt es definitiv einladendere Orte.
Mein oberflächlicher Eindruck von Middletown erklärt leider nicht wirklich viel. Auch meine nun doch schon mehrtägige Fahrt durch das ehemalige „coal country“, den „rust belt“ lässt mich nicht wirklich verstehen, worum es hier geht. Man sieht die Obdachlosigkeit nicht, man sieht fast kein offenes Elend, der Rasen ist überall gut gestutzt, alle haben Autos und diese sind mehrheitlich gut im Schuss. Was habe ich verpasst?
Ein Tag später. Lange Fahrt. Der erste Tag, wo es nicht heiss ist, immer kurz vor dem Regen, aber abgesehen von ein wenig Nieseln komme ich trocken voran. Ich halte an einer Schule im Nirgendwo und setze mich auf eine Sitzbank. Die einzige Gelegenheit mich von den Sattelqualen zu erholen. Kurz darauf kommt eine äusserst sympathische Frau und will wissen, wie es mir geht. Sie ist wohl erstaunt darüber, dass ein Typ wie ich vor der Schule sitzt und wir kommen ins Gespräch. Ich erzähle von meinen Plänen, sie unter anderem von einem europäischen Austauschstudenten. Und ich spüre ihre Bewunderung für Europas Politik. Die ich etwas in Frage zu stellen versuche, ganz so idyllisch ist Europa dann doch auch wieder nicht.
Irgendwann kommt sie sehr allgemein darauf zu sprechen, dass es in den USA nicht gut laufe. Fehlender „leadership“. Ich versuche zu erwidern, dass ich bislang sehr zufrieden bin mit dem, was ich erlebt habe und das Land „gut im Schuss“ finde. Die Infrastruktur ist massiv besser als erwartet (solche Velowege, es ist fast schon paradiesisch…), bislang auch kaum Obdachlosigkeit, ich bin positiv überrascht. Leider lenkt sie mein Einwand eher ab, was mir immerhin eine kühle Flasche Wasser einbringt (herzlichen Dank nochmals dafür, das ist, was man in solchen Situationen gebrauchen kann!).
Ich bin mir bewusst, dass es in den USA schwierig ist über Politik zu reden. Gleichwohl spreche ich sie nochmals auf dieses negative Gefühl an. Und sie bleibt vage. Mir kommt es so vor als ob es vor allem um eine Art Unwohlsein geht. Dass das Land in die falsche Richtung driftet. Dass es, ich weiss nicht, ob das richtig ausgedrückt ist, nicht mehr aufwärts geht. Vorwärts wäre vielleicht besser. Vielleicht aber auch, dass die Eliten in Washington weit weg sind und sich nicht um die Probleme der einfachen Leute kümmern.
Diesen Vorwurf habe ich jedenfalls in den USA schon oft gehört – und zwar vor allem von Leuten, die Trump verachten. Spannend daran ist, dass es exakt derselbe Vorwurf ist, der auch von Trump-Anhängern geäussert wird. Die fehlende Repräsentation, die zu grosse Distanz zur „grossen“ Politik.
Ist es dieses Unbehagen, das die USA bestimmt? Das Unbehagen, das von rechts wie links kommt? Dieses Gefühl, dass das Land sich in die falsche Richtung bewege und zugleich die Hilflosigkeit, nichts dagegen unternehmen zu können? Wie erfolgreich war Obamas „yes, we can!“? Wie erfolgreich Trumps „make America great again?“ In welche Richtung driftet das Land? Und driftet es eher als dass es geführt wird?
Ich sitze in der Lounge des nächsten Hotels und höre mit einem Ohr wie an der Bar gesprochen wird. Es geht streng genommen um Kinderarbeit, dass die Tochter einer Anwesenden schon mit 14 arbeiten müsse. Da sagt ein vielleicht 30 Jähriger: „I started working, when I was 14.“
In Middletown hat es eindrückliche Graffitis. Was sie vor allem auszeichnet: sie zeigen alte Zeiten. Früher war es besser. Das war es zwar nicht, aber es erklärt vielleicht dieses Unbehagen. Es waren klarere Zeiten. Mit mehr Autorität. Wo nicht alles hinterfragt wurde. Wo man sich mit weniger zufrieden gab. Wo man sich nicht permanent mit anderen messen musste (Social Media). Diese Erkenntnis ist mir noch etwas zu banal. Aber ich habe ja noch viele Wochen vor mir und bin gespannt, wo mich diese hinbringen werden. Und vielleicht werde ich dann auch klagen: „aber die Radwege in Ohio, die waren noch viel besser…“
Lieber Herr Rey
Ich folge Ihren Beiträgen nur allzu gerne. Ich finde, Sie zeichnen ein authentisches Bild und knüpfen äusserst ergiebige Reflexion über Politisches oder Moralisches ein. I like (Social Media). Ich bin daneben der festen Überzeugung, mit Ressort fee einen neuen Running Gag gefunden zu haben. Hopp de Bäse!
Lieber Herr U.
Ich bedanke mich natürlich für Ihren wertschätzenden Kommentar, etwas lässt mich aber nicht los. Auch wenn die Buchstaben mal gross, mal klein geschrieben sind, ich habe ja den Verdacht, dass das immer Sie sind. Also kein U. s. wie auch immer. Sondern eine Person, die sich hinter diesen Buchstaben verbirgt. Vielleicht eine moderne Form des Herrn K. Den Sie, werter Herr, so wie ich Sie einschätze nur allzu gut kennen!
Ich muss Sie (so Sie denn immer die gleiche Person sind) aber leider doch auch einmal korrigieren: es heisst „resort fee“ und den musste ich bislang erst einmal bezahlen, da die Hotels, die ich ansonsten frequentiere, also ich nehme ein Beispiel. Gestern gab es einen Fitnessraum. Mit defekten Fitnessgeräten. Und es gab einen Pool. Ohne Wasser. Ich bin mir sicher, Sie verstehen, was ich meine und wünsche Ihnen hochachtungsvoll einen guten Wochenstart!
Mit besten Grüssen!