Obwohl ich mich gestern dazu entschieden habe, heute statt mit dem Zug mit dem Velo nach Chicago zu fahren bleibe ich noch etwas liegen. Zu gemütlich. Und ich habe mir die 500 Kilometer in etwas kürzere Etappen aufgeteilt, so dass heute nur gut 100 Kilometer vor mir liegen.
Ich packe zusammen, mache mich bereit und fahre los. Allerdings zuerst noch in die falsche Richtung, ich will nochmals an die Riverfront. Soll ein Highlight Detroits sein, das ich noch kaum erkundet habe. Und tatsächlich. Hier wurde und wird investiert. Gemütlich. Es hat nicht angekettete Liegen, viele Sitzgelegenheiten, wie immer Toiletten, Wasserspender, alles, was es braucht. Und da die Sonne grad noch nicht so heiss brennt – bleibe ich noch etwas sitzen. Und noch etwas. Zu gemütlich.
Irgendwann reisse ich mich dann los und fahre zurück. Ich muss wieder durch Dearborn fahren, wo ich vorgestern schon war, nehme dieses mal aber einen anderen Weg. Durch die mexican town. Bei Sonnenschein schliesse ich die Stadt immer mehr in mein Herz. Der Norden und Westen müssen wirklich heftig sein, aber hier liesse sich leben. Teilweise wirkt es wirklich so als ob man sich in Mexico befinden würde, Niedergang findet man hier kaum.
In Dearborn gehe ich endlich in ein Coney Island. Das war mir vor Tagen empfohlen worden. Eine Restaurantkette, die es nur rund um Detroit gibt. Bekannt durch ihre Hotdogs. Einen solchen verschmähe ich zwar, aber das Essen ist OK, günstig und vor allem hat es eine grosse Auswahl an Nicht-Burgern…
Hinter Dearborn biege ich in eine „closed road“ ein. Das gibt es leider immer wieder und es ist meist sehr unklar, ob man mit dem Velo durchkommt. Es hat auch einen Veloweg daneben, weshalb ich es versuche. Zum Glück. Kilometer um Kilometer fahre ich auf einer breiten zweispurigen Strasse, teile sie mir nur mit verschiedenen anderen Velofahrern. Ein Genuss, der dadurch komplettiert wird, dass auch die Natur unglaublich schön ist.
Ab und an hat es Überschwemmungen, die aber nie ein Hindernis sind. Im Gegenteil macht es Spass mitten hindurch zu fahren, wenn es auch manchmal etwas tief ist – meine Latschen kümmert das nicht.
Entlang der Strasse hat es vielleicht ein halbes Dutzend Parks mit Spielplätzen, Baseballfeldern, Sitzbänken, Toiletten, Wasserspendern, das einzige, was fehlt sind Leute. Gut, die Strasse ist gesperrt, aber es wirkt so als ob es auch sonst kaum Leute hätte.
Ich bin definitiv in den Suburbs angekommen und hier ist das Geld hingeflossen, das früher wohl in Detroit war. Die Siedlungen sind sichtbar wohlhabend, in Plymouth hat es fast zum ersten Mal Strassencafes, einen Park voll (!) mit Kindern und ihren Eltern, ein ungewohnter Anblick. Ein Park, der lebt.
In Ann Arbor wiederum ein bislang ungewohnter Anblick: eine Art Bach wurde umfunktioniert in eine Erlebniswasserrutsche, wo man mit Gummireifen durchfahren kann. Sieht extrem fun aus. Etwas später biege ich einmal mehr auf eine ehemalige Bahnstrecke ein, die inzwischen zur Veloroute umfunktioniert wurde. Perfekt asphaltiert, perfekt unterhalten. Ich staune immer mehr wie unfassbar gut die Infrastruktur fürs Velofahren ist.
Nach einem gemütlichen Tag erreiche ich mein Hotel in Chelsea und gehe noch etwas essen. In meiner App war es nicht verzeichnet, auch hier gibt es ein Coney Island. Das Essen ist günstig. Und schmeckt auch entsprechend. Nicht schlecht, aber auch nicht der Wahnsinn. Ich bestelle einen griechischen Salat (mit Dosenranden) und Spaghetti Bolognese, die etwas lahm schmecken, aber vielleicht sind auch einfach meine Ansprüche zu hoch.
Ich habe den Tag sehr genossen, von Cincinnati nach Detroit bin ich ziemlich gehetzt und habe so einen Tag gespart. Aber bis knapp 150 Kilometer am Tag sind viel. War aber auch OK. Denn das Wetter war da schwülwarm, irgendwie gut, das hinter mich zu bringen, heute war fast schon ein Spätsommertag, Sonne, aber nicht zu heiss, weil es gestern fast den ganzen Tag geregnet hatte deutlich trockener, ich liebe es. Zusammen mit der schönen Natur kann ich definitiv sagen: für heute hat es sich gelohnt, auf die Zugfahrt zu verzichten.
P.S. Kurz überlege ich mir, ihn zu kaufen und damit durch die USA zu cruisen. Aber dann würde ich die tollen Velowege verpassen…
Ich möchte gleich zur Beichte kommen. Ich heisse nicht N, dieser Buchstabe ist der letzte Teil meines Vornamens. Sodeli.
Lieber Herr Rey
Ich geniesse die Lektüre Ihrer Beiträge, da ich so vieles über das Amerika abseits der Schlagzeilen erfahre. Hierzu zähle ich auch Deutungshypothesen zur ökonomischen Entwicklung einer Grossstadt wie Detroit. Aber auch Einschätzungen, welche mir klarmachen, dass belebete Quartiere selten, dann aber doch qualitativ hochwertig sein können. Sie, Herr Rey, sind also mein reisender Reporter. Und ich freue mich für Sie.
PS: Das Video mit den vorbeifliegenden Enten bei der überschwemmten Strasse fand ich super!
PPS: Kaufen Sie die Karre. Ich erinnere an meine Islandreyse, bei der ich eigentlich ausschliesslich zu Fuss die Insel erkunden wollte, um dann nach zwei Tagen einen Mietwagen zu nehmen. Und wie schön ist dieses Cremeweiss. Bitte kaufen. Guudpreys!
Mein lieber Herr Buchstabensuppe (ich hoffe, das „lieber“ kommt Ihnen nicht zu Nahe, aber ich fühle mich Ihnen allmählich etwas vertraut – und die Amerikaner sind da etwas weniger distanziert als wir Europäer). Es freut mich natürlich, wenn Ihnen meine Berichte gefallen, insbesondere meine Reyportagen. Sie können sich nicht vorstellen wie wichtig ein solches Feedback für mich ist. Es gibt mir jeden Tag wieder die Kraft, weiterzumachen und für Sie, aber natürlich auch für alle anderen Leser, die leider zu faul oder zu schüchtern sind, sich ebenfalls mit Kommentaren zu Wort melden, neue Geschichten zu erf, äh, zu finden. Und keine Bange! Ich habe noch weitere Vögelvideos für Sie! Nur Geduld.
Ach und hätten Sie mir das doch früher gesagt. Den Ford Thunderbird habe ich leider am Strassenrand stehen lassen. Auch wenn mir das Herz schwere Tränen geweint hat, es hätte noch viel schwerere Tränen geweint, wenn ich mein geliebtes Velo hätte zurücklassen müssen (es musste letzthin im Regen stehen, ich habe gelitten!). Und ein Ford Thunderbird ist zwar gross, aber kaum gross genug für mich und mein Velo. Und mein Gepäck.
Aber vielleicht haben Sie ja recht (natürlich haben Sie das!) und ich hätte hier meine Prioritäten anders setzen müssen. Aber, um sich zu grämen ist es jetzt zu spät, so möchte ich mich einfach noch bei Ihnen bedanken und freue mich auf weitere Kommentare von Ihnen.
Von Herzen, Ihr ergebener Reyman.