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Tag 24 Most miserable Town

Es hätte ein so schöner Tag werden können. Das Hotel ist viel besser als befürchtet und ich habe gut geschlafen, die Sonne scheint, das Frühstück ist schrecklich, aber das kann die Stimmung nicht senken, da ich mir am Vortag noch ein Spezialfrühstück erstanden habe.

Vor allem aber zeigt sich Komoot heute versöhnlich: fast alles wieder idyllische Fahrradwege!

Und dann verliere ich das ganz gut aussehende Baguette auf dem Weg vom Supermarkt (ohne Frischgemüse) ins Apartment in Chicago. Fällt irgendwo aus der Tasche, ohne dass ich es merke. Mist. Aber das ist natürlich nicht der Grund dafür, dass der Tag nicht schön gewesen ist und ehrlich gesagt war er das sogar. Mir geht es gut, ich habe Vieles und Spannendes erlebt. Aber schön war es grösstenteils nicht. Denn ich war in der most miserable town der USA.

So steht es zumindest in meiner Kartenapp. Wo viele Velowege, die Zugstrecken, vor allem aber mehrere hundert von mir bestimmte „Points of Interest“ eingezeichnet sind. Gary: „Most miserable town, lowest life expectancy, homicide…“. Und das nicht, weil sie die Geburtsstadt von Michael Jackson war.

Nach wenigen Kilometern auf einem einmal mehr perfekten Fahrradweg sehe ich eine Karte. Sie zeigt Möglichkeiten nach Gary zu gelangen. Rot: gut. Orange: OK. Gelb: wenns nicht anders geht. Ob sich das auf die Verkehrs- oder die Sicherheitslage bezieht, steht leider nicht.

Natürlich biege ich auf eine rote Strecke ab und fahre in Richtung Stadt. Schon bald fallen mir Häuser auf, die offensichtlich verlassen sind oder wo ich mir nicht sicher bin, ob sie noch bewohnt sind: es stehen Autos davor, aber die Fenster sind durch Karton oder Holzplatten ersetzt oder die Häuser halb verfallen. Bald fühle ich mich nicht nach Detroit zurückversetzt, nein, es ist viel schlimmer. Gefühlt jedes 5. Haus ist – bewohnt.

Gary hatte 1960 fast 200’000 Einwohner. Heute sind es keine 70’000 mehr. 2/3 der Menschen haben die Stadt ver- und ihre Häuser zurückgelassen. Wie in Detroit oder auch in Middletown ging diesem Exodus der wirtschaftliche Niedergang voraus. Die Stahlindustrie konnte sich nicht halten und viele Menschen verloren ihre Jobs, eine typische Geschichte im Rust Belt, der für die US Wahlen von so grosser Bedeutung ist.

Vor allem Weisse verliessen die Stadt. So wurde Gary zur Stadt mit dem höchsten prozentualen Anteil von Schwarzen.

Im Stadtzentrum sind ebenfalls viele Häuser zerfallen, viele Geschäfte verwaist, eine Kirche in sich zusammengefallen. Man kann sich kaum vorstellen, dass das das Zentrum einer Stadt ist, die einmal fast so gross wie Genf gewesen ist. Und doch gibt es auch wenige positive Zeichen. Zum Beispiele eine Kunstschule, Kunst im öffentlichen Raum.

Viel mehr fasziniert mich allerdings, dass auch hier der Rasen meist sauber geschnitten ist. Es gibt öffentliche Parks mit Spielplätzen und sauberen Dixie Klos, eine Art S Bahn Anbindung an Chicago.

Gleichwohl scheint der Niedergang der Stadt, die nur rund 40 Kilometer von Downtown Chicago entfernt liegt kaum aufzuhalten zu sein. Der Stadt fehlen die finanziellen Mittel, um sich im positiven Sinne zu verändern. So mussten viele Schulen geschlossen werden, die nun ebenfalls zerfallen.

Der Zerfall dieser Stadt erschüttert mich. Ich habe schon vieles gesehen, doch das hier ist wirklich krass. Und so habe ich die doofe Idee, wenigstens noch etwas in der Stadt zu konsumieren. Ich habe auf dem Hinweg einen KFC gesehen und will da Mittag essen, auch wenn es dazu noch etwas früh ist. Ich schliesse mein Velo ab, gehe zur Tür, geschlossen. Ich schaue auf die Uhr: seit 20 Minuten müsste er geöffnet sein. Ich gehe auf die andere Seite, geschlossen. Dann halt nicht. Ich fahre weiter und sehe auf der App, dass es am Rande der Stadt noch einen Subway haben soll. Fahre ich halt dahin. Doch der existiert nicht mehr und die alternative Fastfood Bude hat noch geschlossen.

So fahre ich weiter nach East Chicago, das noch zum Staat Indiana gehört, also wohl wenig mit Chicago zu tun hat, ausser dass es in dessen Nähe liegt. Hier finde ich einen Subway. Das Chicken ist leider nicht wirklich aufgetaut, der erste Sub, den ich nach der Hälfte wegwerfe. Die Toiletten sind out of order, irgendwie passt das leider sehr gut.

Einen geschlossenen Sub habe ich allerdings schon gestern angesteuert: in New Buffalo, dem Ultra-Bonzen-Kaff nur wenige Dutzend Kilometer weiter nordöstlich. Das ist wohl Amerika. Die grossen Kontraste. Es liegen nur wenige Kilometer zwischen den Super-Duper-Luxus-Villen mit Seeanstoss und den beinahe Slums, den heruntergewirtschafteten Ecken. Zwischen Gucci-Demokraten und Rustbelt-Republikaner. Wobei das natürlich auch wieder nur ein Klischee ist. In Gary sind die Bürgermeister meist Demokraten und in New Buffalo wird es auch genug Trump-Republikaner geben. Zumindest einen hatte ich angetroffen:

Nein, es war ein schöner Tag. Gary war eindrücklich. Chicago ist das auch. Eine Stadt, die einen anders als Detroit mit offenen Armen empfängt und voller Leben ist. Und in der ich die nächsten zwei Tage verbringen werde.

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