Ja, die geneigte Leserschaft hat es natürlich längst begriffen: ich habe einen Tunnel gegraben. Um den Missouri zu unterqueren. War anstrengend, aber anstrengend ist ja diese ganze Reyse. Was denken Sie denn. Einfach weil es ein „E“ vorne dran hat, sei das alles pipifax? Ne, da kommen Sonderwünsche auf. So ein bisschen „E“, da könnte man ja noch dies mitnehmen. Und das. Wofür Harley-Fahrer dann nen Anhänger verwenden. Aber ich kann noch ohne Anhänger. Gut gepackt. Und gut gepackt heisst auch: Tunnelbohrfräse dabei. So Spezialanfertigung. Ich muss dazu nur das Vorderrad umbauen, so dass es statt eines Reifens eine Tunnelbohrfräse antreibt. Und ehrlich gesagt, ich komme schon etwas ins Schwitzen. Aber zum Glück, grabe ich mich ja unter einem Fluss durch. Missouri. Und so tropft es immer mal wieder von oben. Das kühlt. Aber ich sag ihnen. Anstrengend. Auch mit „E“.
Und so bin ich froh als ich nach ein paar Stunden Arbeit ein lautes Quieken vernehme. Ich schaue mich um, kann aber nichts erkennen. Ich richte das auf meinem Helm montierte Licht nach allen Richtungen und siehe da, plötzlich sehe ich die Schnauze eines Maulwurfs, der ziemlich ausser sich zu sein scheint. Kein Wunder. Der hat sicher noch nie in seinem Leben ein E Bike mit Tunnelbohrfräse gesehen. Aber das ist es nicht einmal. Er ist zum einen ausser sich, weil ich beinahe seine Wohnhöhle angefräst hätte, zum anderen aber macht er mir auch klar wie cool er das findet. Wie schnell ich da vorankomme. Und wie gross der von mir gegrabene Tunnel ist. Das macht es ihm leichter an die Oberfläche zu gelangen – aber auch wieder hinunter in seine Höhle.
Die Dankbarkeit überwiegt zum Glück und er lädt mich ein, seine Höhle zu besuchen. Erst denke ich mir, dass ich dafür doch zu gross sei. Er meint jedoch, dass das gar kein Problem sei und in der Tat, plötzlich stehe ich in einer grossen Halle, ganz nett möbliert. Halt so wie ein Maulwurf es sich gemütlich macht. Dabei muss man bedenken, dass der ja nichts sieht und so sieht es auch aus. Dunkel. Als ich aber meine Lampe den Wänden entlang strahlen lasse, fällt mir auf, dass diese aus etwas Reflektierendem bestehen. Es sind nicht eigentlich Spiegel, ich komme nicht drauf.
Ich trete fasziniert näher und der Maulwurf meint nur, das seien Schattenspiegel. Das seien die Schatten derjenigen, die hinschauten. Er selbst habe keinen Schatten, da er ja nichts sehe. Gemein. Da lebt er im Reich der Schatten und kann sie nicht, also so etwas. Gemein.
Ich trete noch näher, berühre meinen Spiegelschatten und beginne mit ihm zu reden. Wir werden uns bald einig: wir wechseln mal. Nur so zum Spass. So von wegen Abenteuer und so. Vermutlich ist es recht langweilig, sein eigener Spiegelschatten zu sein, aber wer weiss das schon, bevor er es ausprobiert hat. Und so verschmelze ich mich mit dem Schattenspiegel und trete in eine Welt ein, die alles sprengt, was ich je gesehen habe.
Denn da ist nicht nur dieses Spiegel-Nichts-Dings, sondern dahinter hat es Kragausen. Das stelle man sich einmal vor! Echte Kragausen. Gehört hatte ich natürlich schon davon, aber wie alle Menschen noch nie welche gesehen. Kragausen und Tschonfligurien. In allen Farben und Formen. Manche können sogar fliegen, andere die Farbe wechseln und manche, aber das können Sie eh nicht verstehen. Das ist eine Welt, die muss man erlebt haben. Da verfälschen Worte nur das Erlebte. Und irgendwie hat es auch etwas Privates. Ja. Vielleicht sollte auch nicht die ganze Welt erfahren wie diese Spiegelschattenwelt wirklich ist. Da muss schon jeder sich die Mühe nehmen, hierher zu kommen.
Aber ein wenig langweilig ist es schon auch. Ich meine Abenteuer das Ganze, keine Frage. Grosses Abenteuer. Aber da so als Spiegelschatten den Kragausen zusehen, den ganzen Tag und irgendwann brummt der Magen und so. Ist schon anders. Und so sehne ich mich schon bald nach meinem Spiegelschatten und hoffe, dass ihm unsere Welt nicht zu dolle gefällt und er irgendwann zurückkommt.
Die Angst ist zum Glück vergebens. Der Spiegelschatten hat durchaus Spass gehabt am Graben, das muss man sagen. Der bewegt sich ja auch sonst nicht so viel. Ist da eher eingesperrt mit seinen Tschonfligurien, die ehrlich gesagt sehr nervig sein können. Aber er liebt sie halt, ist seine Welt. Und so kommt er nach geraumer Zeit zurück und erzählt mir von seinen Erlebnissen.
Wie er den Tunnel fertig gegraben hat. Auf der anderen Seite des Missouri plötzlich ein Licht gesehen hat, noch viel stärker als meine Helmlampe. Das hat ihn verunsichert, aber mutig wie er ist, ist er da raus und sagt, dass er durch schöne Landschaften gefahren sei.
Viel grün, viel Gras, ganz schön, aber ohne Kragausen und erst recht ohne Tschonfligurien. Eine arme, letztlich leere Welt. Meint er. Aber spannend sei es schon auch gewesen. Vielleicht sogar ein bisschen abenteuerlich.
Schnell sei er aber auch müde geworden. So viele neue Eindrücke. 100 Grad im Schatten. Und er in der Sonne. Und dann natürlich das Schaufeln. Und so habe er sich ein Hotel gesucht, sich da eingemietet, natürlich mit meiner Kreditkarte, der Schlingel. Sogar 8 Prozent Resort Fee hat er bezahlt. Naivling. Er sei dann auf sein Zimmer gegangen, habe es sich gemütlich eingerichtet und irgendwann aus dem Fenster geschaut und da habe es ihm die Stimme verschlagen. Das sei nicht wirklich tragisch gewesen, weil er eh nichts sagen wollte und auch niemand in der Nähe gewesen sei, dem er etwas hätte sagen wollen oder können, aber da vor dem Fenster, da stand doch eine Brücke. Warum in aller Welt ich denn diesen doofen Tunnel gegraben hätte?
Meine Antwort besänftigt ihn natürlich gleich wieder. Aus Abenteuerlust. Und seien wir ehrlich, ohne Tunnel hätte ich ihn ja nie getroffen und hätte er nie erfahren wie es ist in einem Hotelzimmer zu liegen und auf eine Brücke zu starren. Er muss mir recht geben. Einfach den einfachsten Weg wählen, das geht natürlich gar nicht. Sondern der Umweg ist der Weg ins Abenteuer.
Bevor er wieder in den Schattenspiegel eintaucht und wir wieder Plätze tauschen, erzählt er mir noch eine letzte Geschichte, die mich etwas nachdenklich stimmt. Er sei da so gemütlich auf seinem Bett gelegen und plötzlich sei da laut Musik gespielt worden. Er singt mir einige Lieder vor. Gar nicht unbegabt. Aber ich muss meine ganze Fantasie zusammennehmen, um herauszuhören, um welche Band es sich handelt. Am Ende ist es aber so offensichtlich und naheliegend, dass es mir wie Schuppen von den Augen fällt: mit Nirvana in den Ohren ist er eingeschlafen.
Und hat davon geträumt, so erzählt er weiter, wie ihn sein, also er konnte das nicht so genau beschreiben, halt ich, wie ich einen Tunnel gegraben hätte, um den Missouri zu unterqueren und dabei auf einen Maulwurf gestossen sei in dessen Gemächer er zusammen mit Kragausen und Tschonfligurien hinter einer seltsamen Schattenspiegelwand gelebt haben soll. Und dass wir quasi Plätze getauscht hätten. Wir lachen gemeinsam über diese Vorstellung, absurd, das geht ja gar nicht auf. Das macht doch keinen Sinn! Das ist ja irre!
Lachend nehme ich Abschied von ihm und seinen Gespanen, den Kragausen und Tschonfligurien und bedanke mich überaus freundlich beim Maulwurf und mache mich auf den Weg zurück in den Stollen. Ich steige auf mein Velo und fahre den nun fertig gestellten Tunnel hindurch auf die andere Seite des Missouri. Auf zu neuen Abenteuern.
Anmerkung zum Beitragsbild. Diese Foto habe ich heute auf meiner Kamera gefunden. Sieht für mich aus wie eine Schule im 19. Jahrhundert. Was hat dieser Spiegelschatten bloss angestellt? Hoffen wir, dass die Welt fortan nicht komplett aus den Fugen gerät!