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Tag 47 Tim und Tom

Fehler oder nicht. Heute morgen bin ich früh wach. Kann nicht mehr einschlafen. Bin eigentlich entspannt, es gibt für mich zwei Varianten: um 7 ist der Pass frei und ich fahre los oder um 7 ist der Pass nicht frei und ich fahre gleichwohl los. Also kein Grund für Schlaflosigkeit. Um 7 checke ich die relevante Website, sie ist auf dem Stand von 6:37: Road closed. Um 7:15 keine Veränderung. Ich rede mit der Reception und die meint, dass Leute, die näher an der Entscheidung dran sind davon ausgehen, dass der Pass zu bleibt. Und dann das Gewitter? Zwei Möglichkeiten: es ist ein wasserreiches Gewitter, dann könnte es besser werden. Oder es ist ein windreiches Gewitter. Dann – eben.

Für mich gibt es in dem Moment zwei Varianten: Warten und darauf hoffen, dass der Pass morgen offen ist, dann würde ich eine gebuchte Hotelnacht „verlieren“. Oder umkehren und den grossen Umweg über Cody nehmen. Dann würde ich zwei Hotelnächte „verlieren“. Problem mit der ersten Variante: ist der Pass morgen nicht offen, verliere ich alle vier Hotelnächte. Und die Wahrscheinlichkeit, dass der Pass demnächst geöffnet wird erachte ich als gering.

Einfacher macht es, dass ich die Entscheidung um 7 fällen muss. Warte ich bis 10, dann werde ich womöglich mitten im Sturm landen, der mit „strong“, maybe „severe“ bezeichnet wird. Will ich nicht. Warten auch nicht.

Und so mache ich mich – guten Mutes! – auf den Weg zurück. Ja, ernsthaft, ich bin gut gelaunt. Bitzeli Abenteuer. Und die Abfahrt ist richtig cool. Ich fahre Dutzende Kilometer fast ohne Trampeln und das auf einer Strecke, die ich bereits kenne. Und im Wissen, dass ich sämtliche Höhenmeter gestern selber hochgekeucht bin. Ich schaffe mit einem Akku 140 Kilometer (sonst maximal 70), so viel wie noch nie und fahre insgesamt 198 Kilometer in kürzester Zeit.

Unterwegs treffe ich zwei Radfahrer. Der Erste, nennen wir ihn Tom fährt fast in mich rein. So sieht es zumindest im Rückspiegel aus. Tom ist wohl Bikepacker. Wenig Gepäck, sportliches Rad. Aber Rucksack? Geht gar nicht! Ich warte bis er mich einholt, aber bei der nächsten Steigung kommt er nicht mehr mit. Auf der Geraden höre ich wieder etwas, kucke in den Spiegel und Tom ist weg. Ich bin überrascht bis ich merke, dass er mich rechts überholen will. Das geht aber gar nicht. Ich lasse ihn links passieren, er sagt kurz Hi und ist weg. Bis zur nächsten Steigung, wo ich dann anders als er abbiege zur Raststätte. Ich glaube, Tom und ich, das geht gar nicht. Ebike vs. Rennrad, da geht es um die Essenz, um Weltanschauung, um gut und böse, ja, um Religion.

Später treffe ich auf Tim. Tim fährt vor mir auf einem Rennrad und lässt mich aufholen ohne wirklich langsamer zu werden. Tim stellt sich gleich vor. Er sei von da und da hierhin gezogen, da ruhiger. Ob ich auch in der Nähe wohnte. Ich: Nein. Switzerland. Er: Oh, Switzerland, I like the K31. Ich: ???. Er: Yeah, 55 by 7.5. Ich: ???. Er: Rifle. 50s. Ich: ??? Echt? Geil! Endlich treffe ich einen echten Amerikaner, so geil! Er erzählt dann noch, dass seine längste Tour von LA nach San Francisco gewesen sei. Zweimal. Mit der Kirche. Ich: Echt? So geil! Ein echter, waschechter, ein richtiger Ami! So cool! Doch bevor ich meine Freude kundtun kann meint Tim, hier Ende seine Strecke, macht einen U-Turn und fährt zurück.

An der Kreuzung, wo mir Tim erst davonfährt steht das erste Biden-Plakat seit Langem. Ich bin definitiv im Herzen Amerikas, zumindest im republikanischen Herzen angekommen.

Ausschnitt aus dem Plakat links

Ich erreiche wieder Shoshoni, wo ich vor 300 Kilometer gestern gestartet bin und freue mich riesig. Es gibt wieder Pizza. Die ist wirklich gut in diesem Tankstellenladen, dazu ein Milkshake und ne Cola Zero auf Extraeis. Das Leben kann schön sein. Lange verweile ich aber nicht.

Erst geht es einige Kilometer auf einer Ebene in Richtung eines Sees und ich sehe das Gewitter kommen. Das „severe“. Hat die Rockies längst erreicht und schiebt sich jetzt in meine Richtung. Ich beeile mich, denke aber zurecht, dass es einen Reyman nicht einholen kann. Bald geht es durch einen wunderschönen Canyon nach Thermopolis, die Stadt mit der grössten Thermalquelle der Welt. Oder sowas. Ich miete mich in einem günstigen Hotel ein (ich muss ja jetzt die Ausfälle kompensieren), das eigentlich ganz charmant ist.

Apropos Ausfälle: heute Morgen habe ich das eine Hotel angeschrieben, Pass gesperrt, kann nicht kommen, ev. Ermässigung, nichts gehört. Geht für mich in Ordnung, vor allem wenn sie das Zimmer nicht mehr losgeworden sind. Eine Antwort wäre dennoch nett gewesen. Beim zweiten Hotel ist es komplizierter. Ich will das Datum verschieben. Samstag statt Mittwoch. Hätte es noch Zimmer freigehabt. Ich rufe an. Ne, können sie nichts machen ich habe über einen Drittanbieter gebucht. Ich chatte mit Hotels.com (Wartezeit 2 Minuten!), die meinen, sie müssten das Hotel anrufen. Dann: der Zuständige sei nicht im Haus. Ticket eröffnet. Antwort innert 72 Stunden. Das nervt mich jetzt doch ein wenig. Ich will ja aus einem nicht trivialen Grund lediglich das Datum verschieben, aber niemand fühlt sich zuständig. Noch mühsamer aber: solange ich keine Antwort habe, kann ich nicht wirklich ein anderes Hotel buchen, es ist aber fast alles ausgebucht im ganzen Tal. Wenn ich nicht buche, werde ich die Nacht womöglich ohne Hotelzimmer verbringen müssen und das könnte gefährlich werden. Gut. Bärenspray habe ich. Aber auch zu viele Nahrungsmittel bei mir.

Deshalb die Frage an einen Experten – oder an meinen Bruder: ich habe einen Daunenschlafsack, dessen Komfortbereich bei 10° Celsius endet. Die Nacht könnte so 5-8 Grad kalt werden. Zusätzlich habe ich eine dünne Isomatte und ein Zelt. Wenn ich jetzt kein Zimmer finde oder nicht wieder viel zu viel bezahlen will, habe ich eine Chance ohne ernsthafte Erfrierungen zu übernachten, wenn ich zusätzlich zum Schlafsack über eine dünne Merinowollejacke verfüge, einen dicken Merinowollepullover (bislang ungebraucht), eine Daunenweste (bislang ungebraucht) und eine Regenjacke? Und ich meine zwei langen Hosen inklusive zwei gepolsterten Unterhosen (die mir heute im Doppelpack den Hintern gerettet haben) trage? Oder würde ich, wenn ich alles trage eher an einem Hitzeschlag sterben? Für kompetente Antworten bis Samstag bin ich äusserst dankbar!

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Ein Gedanke zu „Tag 47 Tim und Tom“

  1. Lieber Bruder

    Zuerst die Frage: Daunenschlafsack, der bei 10 Grad Celsius (Komfort) endet? Du hättest mich fragen können, ich hätte auch noch einen Hütten-Seiden-Schlafsack gehabt.
    Habe gerade nachgeschaut. Mein Valandré Bloody Mary hat einen Komfortbereich von minus 5.4 Grad. Gut, in Nächten, in denen das Wasser in der Feldflasche – direkt neben dem Schlafsack – den flüssigen Zustand aufgibt, ist die Nacht schon nicht so nice. (Kommt der Name meines Schlafsacks wohl daher, weil man am Morgen direkt das Eis für den Bloody Mary ans Bett serviert bekommt? Habe ich mir noch gar nie überlegt. Clever.)

    Jetzt hänge ich ein wenig den grossen Bruder raus:

    Sich über Bürokratie, hohe Preise und Unflexibilität der Amis nerven und sich dann scheuen, das alles hinter sich zu lassen und sorgenfrei im Schoss von Mutter Natur zu nächtigen. Da gibt es nur eins: Do it.

    Zeig es all den Bürokraten, all den herumstreunenden Bären (werden eh überschätzt) und den halbwegs kalten Temperaturen – zeige allen den Stinkefinger und mümmel Dich in den Schlafsack ein.

    Und jetzt noch einen ernsthaften Tipp:
    Wenn es wirklich kühl ist (oder der Schlafsack zu dünn). Denk zurück ans einturnen in der fünften Klasse (oder so). 10 Minuten intensive Dehnungsübungen bis alle Muskeln warm sind, sofort in den Schlafsack hüpfen und bis oben zureissverschlussen. Mütze nicht vergessen (wenn Du keine hast: ob der Helm auch etwas bringt, wage ich zu bezweifeln, sorry).

    P.S.: Und denke auch ein bisschen an all die unbenutzten, in Funktionswäsche verarbeiteten Merinoschafe. Der Respekt diesen Tieren gebenüber gebührt es, dass sie ihre Wolle nicht umsonst lassen mussten und sie nun endlich auch zum Einsatz kommt.
    Schlaf gut.

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