Als ich die Türe öffne wenden sich erst zwei Augen in meine Richtung. Kurz darauf sind es 40. Sowas haben die hier noch nie gesehen.
Es ist Sonntagnachmittag in Alder, Montana. Chick’s Bar. Der Raum ist schummrig, ein Billardtisch steht unbenutzt rechts vom Eingang, ein anderer etwas versetzt davon auf der linken Seite. An der linken Wand des Raums hat es verschiedene Glücksmaschinen, eine Dartmaschine, die aber alle gelangweilt und unbenutzt dastehen.
An der rechten Wand hängt eine Art Ahnengalerie. Fotos verschiedener Personen, wer sie sind ist nicht so ganz klar. Cowboys, verwegene Gestalten, ein Indianerhäuptling. Eine Frau. Angeschrieben ist nur einer: Chick McLean.
Die Luft ist dick, es riecht nach abgestandenem Alkohol und zu wenig Austausch. Zu wenige Leute betreten oder verlassen die Bar, so dass die Tür zu selten geöffnet wird. Wer hier ist, der bleibt hier, was sonst gibt es in Alder zu tun an einem wolkenverhangenen Sonntagnachmittag.
Die Bar hat nur 3 Tische. Ein kleiner Tisch mit zwei Hockern, ein etwas grösserer Tisch mit drei und einer mit vier. Diese Tische werden wohl kaum benutzt, denn Blickfang und Stammtisch ist hier die grosse Bar. Hufeisenform. Hier setzt man sich hin.
Betritt man den Raum, sieht man zuerst die Rücken derjenigen, die am Ende des „U“ sitzen. Links davon sitzen die Männer, rechts davon die Frauen und im Rücken treffen sie irgendwo aufeinander. Im U drin steht ein Tisch voll mit hartem Alkohol wie auch an der Wand hinter dem U Flaschen in verschiedenen Formen und Farben prangen. Und eine Lichtergirlande. Nicht unhübsch. An der Wand zwischen den Flaschen hängt ein Hirschoberkörper mit riesigem Geweih, vermutlich echt, da wir hier im „Hunter-Land“ sind. Hunters sind explizit willkommen, zwischen den erwähnten Fotos hängt auch ein Bisonkopf und über der Tür verschiedene Geweihe. Zudem gibt es drei Monitore, die Sport zeigen.
Ich betrete den Raum und bin überrascht. An solchen Orten herrscht sonst Leere. Alder liegt abgelegen in einem Tal, in den Schatten gestellt vor allem von Virginia City. In Virginia City gibt es viele authentische Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, was sie zu einem Touristenmagneten macht. Man findet hir Saloons, Hotels, Souvenirläden, eine Gelateria, alles, was so ein Touristenort halt so bietet. Und dazwischen diese durchaus faszinierenden historischen Gebäude, teils in perfektem Zustand, teils fast verfallen, teils umgenutzt, teils ohne eindeutige Funktion.
In Alder hingegen gibt es wenig zu sehen. Ein RV Park – Standplatz für Wohnmobile – und eben Chick’s Bar and Restaurant. Und zumindest am Sonntagnachmittag 20 Menschen, wohl alles aus dem Umkreis von wenigen Kilometern, welche etwas ungläubig, aber nicht unfreundlich den ungewohnten Fremden anblicken. Nicht feindlich, aber auch nicht wirklich willkommen heissend. Vielleicht einfach verwundert.
Es wird Bier getrunken, vornehmlich Bier. Für den harten Alkohol ist es wohl noch zu früh. Die junge Servierdüse hat trotzdem alle Hand voll zu tun. Sie verkauft auch Sixpacks „over the road“, viele Einkaufsmöglichkeiten gibt es in der Region nicht.
Ich gehe an die Bar, die leider voll besetzt ist. Ungemütlich. Ich gehe an der Bar vorbei direkt zur Wand. Scheint mir der erfolgreichste Ort zu sein. Denn ich habe heute eine Mission. Ich brauche den Schlüssel zu meinem Hotelzimmer. Denn Chick’s Bar und Restaurant ist auch ein Hotel und ein RV Park.
Der „Check-In“ ist unkompliziert, die Autonummer brauche ich nicht zwingend zu notieren, vor allem aber muss ich unterschreiben, dass ich für alle Unfälle selbst verantwortlich bin. Es geht, so vermute ich, vor allem um Unfälle mit Waffen, die hier jeder mit sich herumträgt. Mit dem Schlüssel in der Hand gehe ich zum Motelbereich und staune: einerseits sind es lediglich vier Zimmer, andererseits ist zumindest meines in überraschend gutem Zustand. Ich bin in so vielen Absteigen gewesen, dass ich mich ganz andere Standards gewohnt bin, bis auf das fehlende Wifi ist Chick’s Motel richtig gut.
Das erstaunt mich vor allem aus einem Grund: Chick’s Motel ist nicht leicht zu buchen. Heute Morgen wusste ich noch nicht wie es weitergehen wird. Zwei Optionen. Entweder direkt in Richtung Salt Lake City – oder noch ein kleiner Umweg. Das Gefühl spricht für den Umweg, die Vernunft dagegen. Vor allem nachdem ich am Morgen nochmals kurz Booking konsultiert habe. Das einzige sinnvoll gelegene Hotel ist voll. Gut, könnte trotzdem noch Zimmer haben, da Booking nur Kontingente besetzt. Ich prüfe das nicht, sondern versuche mein Glück bei der Konkurrenz. Nichts. Auf Google Maps finde ich dann verschiedene über das Tal verteilte Übernachtungsmöglichkeiten. Die eine kostet ein paar Tausender und muss mehrere Tage gebucht werden, aber da sind ja noch die Hotels in Virginia City und Chick’s Motel.
Die Website sieht gut aus und ich beginne mit dem Buchungsprozess. Geht einfach und schmerzlos, der Schmerz beginnt erst nach der Buchung. Chick wird sich in den nächsten 24 Stunden bei Ihnen melden, ob es noch Platz hat. Ich aber muss in 10 Minuten wissen in welche Richtung ich fahren soll. Ich rufe Chick an, niemand hebt ab. Mist. Gut, etwas Zeit habe ich noch, als Frühstück und Mittagessen habe ich heute ein Subway-Sandwich geplant und der Subway öffnet um 9. Doch bevor ich das Hotelzimmer verlasse erhalte ich eine Message: Room confirmed. Glück gehabt. Chick hat es im Griff.
Und so geht es los entlang dem „Trans America Trail“, endlich einem der etwa vier Trans America Velowegen. Einfach ohne Veloweg, sondern ausschliesslich entlang mehr oder weniger befahrener Strassen. Ich passiere den Earthquake Lake, die Geschichte des Sees wird mit sehr informativen Tafeln entlang des Wegs dargestellt, spannend. Auch tragisch. Danach geht es ein landschaftlich nicht wirklich aufregendes, aber angenehmes Tal bergab bis nach Ennis, wo ich einen Milkshake und eine Cola Zero ziehe, ich muss mich stärken, denn nun geht es bergauf. Heftig bergauf. 600 Meter auf wenigen Kilometern Distanz. Da ich bislang aber kaum Akku gebraucht habe, kümmert mich das nicht allzu stark, schon eher verunsichern mich die dunklen Wolken.
Als Motivator für den Aufstieg lasse ich Lance and Lea laufen und bin etwas erstaunt. Schon nach wenigen Minuten habe ich 10, 20, 30 Prozent der Höhe hinter mir. Geht alles recht easy. Zum Teil mit viel Gegenwind, aber wozu habe ich meinen Motor! Und danach geht es rasant bergab nach Virginia City, wo ich mir ein Eis gönne und bevor mich die dunklen Wolken erreichen, erreiche ich Chick.
Nach einer kurzen Dusche gehe ich in Chick’s Steakhouse essen und entscheide mich für ein fettes Steak. Cool an solchen authentischen Restaurants ist jeweils die Soup and Saladbar. Man bestellt ein Stück Fleisch mit Beilage (z.b. Mashed potatoes) und kann dazu soviel Suppe und Salat zu sich nehmen wie man will. Bislang immer in einwandfreier Qualität. Und bei Chick? Wäre Hiland von Chick geführt worden, wäre ich da nie gefangen worden, die Gefangenen nie verdurstet.
Ich bestelle das kleine Stück Fleisch, das mich für die nächsten Tage sättigt und gehe dann für einen Absacker noch in Chick’s Bar, wo ich gerade sitze und die Einrichtung etwas genauer betrachte als bei meinem ersten Besuch. Im Hintergrund wird eine Art Curling gespielt, ein langer Tisch über den Metallscheiben gespielt werden, inzwischen ist auch der Billardtisch in Betrieb, die Stimmung ist entspannt, der Alkohol fliesst in Maßen, Alkoholleichen gibt es keine. Die Damen haben das Etablissement inzwischen verlassen bis auf die Servierdüse, die von den mittelalten Herren schon etwas angehimmelt wird.
Ein entspannter Nachmittag in Alder geht zu Ende. Und wäre er nicht durch einen Fremden gestört worden, man würde sich seiner nicht weiter erinnern.
Nachtrag: ich frage mich gerade, ob das alles Kulisse ist. Die Jungs in Chick’s Bar verbringen hier sicherlich viele Stunden, Tage, Wochen, Monate. Warum aber spielen die so unfassbar schlecht Billard?
Nachtrag 2: ich bin mir sicher, nationale Politik interessiert die Jungs hier kaum. Die sind für Trump, gehen zur Kirche oder auch nicht und kümmern sich nicht um die „Democrats of this valley“, die die Reinigung des Highways auf 2 Kilometern sponsern…