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Tag 61 Rückblick

Ich sitze in einem Biergarten, den mir der Velomech empfohlen hat, sehr cool, sehr hip, sehr jung. Gefällt mir. Es gefällt mir auch, einmal ein paar Tage an einem Ort zu verbringen, mal selber zu kochen, Sachen organisieren, einkaufen, es gemütlicher angehen… Die letzten Tage waren anstrengend gewesen und ich war nicht immer nur motiviert. Gleichwohl geht es mir grundsätzlich gut, sowohl psychisch wie physisch. Bewegung tut mir gut – ganz im allgemeinen Sinne. Bewegung – Velofahren, aber auch einfach Bewegung. Immer wieder neue Eindrücke, neue Erlebnisse, neue Beobachtungen, mein Geist braucht Nahrung. Die kann geistig sein, aber auch Beobachtungen können ihn beschäftigen. Hauptsache, er findet etwas, das ihm etwas zu tun gibt. Nichts tun hält er nicht aus. Oder er wird destruktiv. Wie ein kleines Kind. Das beschäftigt sein will. Bevor es lernt, sich selbst zu beschäftigen.

Jetzt beginnt quasi der dritte Teil meiner Tour. Der erste Teil war von New York City bis Chicago. Fühlt sich weit weg an, aber natürlich habe ich viele Erinnerungen. Die Appalachen, die Swing States Pennsylvania und Ohio. Die Arche, Detroit, wunderbare Velowege und am Ende Chicago, eine Stadt, wo Herr Bohnensalat meinte, dass ein Freund von ihm dort wohne, kann ich gut nachvollziehen. Die Outskirts müssen tough sein, hohe Kriminalitätsrate, viele Morde, aber die Innenstadt gefällt mir und auch drumherum hat es viele sehr attraktive Viertel.

Der zweite Teil ging von Chicago bis Salt Lake City. Die Fly Over States. Ich hatte es mir schwieriger vorgestellt. Die Route hatte ich mir ja selber zusammengestellt und sie hat funktioniert. Viele recht einsame Strassen, viele Velowege, kleine Orte mit immer neuen Überraschungen und ich kam gut voran. Ich glaube, ich habe enormes Glück gehabt mit dem Wind, der in dieser Region meist von Westen kommt. Wind wurde erst in den letzten Tagen ein Problem, beherrschbar, aber ermüdend. Ich hoffe, es wird im nächsten Teil wieder besser. Und natürlich: ich hatte unbeschreibbares Wetterglück. Viele hätten sich wohl beklagt wegen der Hitze, aber genau ein Tag Regen, ein paar mal Nieselregen, aber eigentlich nicht mal das. Und selten zu kalt. Fast immer Sonnenschein von morgens bis abends. Extrem motivierend, respektive waren die trüberen Tage oft eher demotivierend. Meine Stimmung schwankt mit dem Wetter.

Weisse Bergkuppen hinter Salt Lake City. Im Vordergrund wohl ein Obdachloser. Ein leider zu normales Bild hier.

In der Ferne hat es geschneit. Manche Bergkuppen rund um Salt Lake City sind seit heute weiss. Auch wenn ich genau in diese Richtung fahren werde, sollte es zumindest gemäss Wetterbericht angenehm warm bleiben. Die Routengestaltung wird schwieriger, es gibt meist nur genau eine Möglichkeit, fast alles Highways, aber das bin ich mich inzwischen gewohnt. Und ich hoffe, die umwerfenden Landschaften werden mich dafür entschädigen. Und sonst sind es ja lächerliche 1500 Kilometer bis Las Vegas (mit Umwegen) und von dort ist der Pazifik schon fast zu sehen. Ja, es sind nun 7500 Kilometer auf dem Tacho, das Bike ist frisch geputzt, die Speichen gecheckt, alles erneuert, was erneuert werden muss, ich habe irgendeinen krassen Plattenschutz gefunden, was mich hoffen lässt, dass es nicht wie zum Beispiel gestern wieder zwei Platten an einem Tag gibt… Keine platten Geschichten mehr. Ich hoffe.

Frisch geputzt, frisch herausgeputzt, mein Velo vor wahren Kindervelos…

Aber das sind die kleinen Herausforderungen. Sportlich bin ich erstaunlicherweise wirklich nicht besonders. Ich spüre die Muskeln, komme beim Wandern schnell ausser Puste, habe erstaunlich wenig abgenommen, obwohl ich gefühlt eher weniger esse als zuhause und mich definitiv mehr bewege. Und doch: wie schon oft erwähnt, der Elektromotor hilft, aber trampeln muss ich immer und wegen der kleinen Gangspreizung nicht zu knapp. Manchmal ist es wirklich anstrengend, Gegenwind…, es hängt auch stark von meiner Verfassung ab.

Und die ist grundsätzlich wirklich gut. Natürlich habe ich Motivationshochs und -tiefs. Gibt es Stunden, wo die Kilometer nicht an mir vorbeigehen und Tage, wo ich nicht weiss, wie ich innert gefühlter Minuten schon 50 Kilometer hinter mich gebracht habe. Es gibt Tage, da widert es mich an, mich aufs Velo zu setzen und Tage, wo ich richtiggehend darauf brenne. Tage, wo ich möglichst schnell am Ziel sein möchte, Tage, die ich gerne in die Länge ziehen würde.

Aber die Grundstimmung ist gut. Solange etwas passiert. Es ist mein Leben. Einsam fühle ich mich erstaunlich selten. Ich benötige wenig zwischenmenschliche Kontakte. Das bin ich mich gewohnt. Ich spreche kaum Leute an, werde nur wenig angesprochen, aber es geht mir auch nicht ab. Im Gegenteil stresst es mich oft, werde ich angesprochen. Werde ich zur Interaktion gezwungen. Selten habe ich das Bedürfnis, zu konversieren, wobei mir dieser Blog sicherlich auch hilft. Erlebnisse formulieren und teilen. Natürlich in der Hoffnung, dass sie jemand liest, dass sich jemand darüber freut, dass jemand virtuell und indirekt an meiner Reyse teilnimmt. Ich freue mich ehrlich über jeden Kommentar, über Textnachrichten und andere Verbindungen zur Heimat. Sie sind mir enorm wichtig. Das Gefühl nicht ganz allein zu sein. Zu wissen und zu spüren, dass da schon noch jemand ist. Das ist wichtig. Nicht ganz vergessen zu gehen, weil man so weit weg ist. Gedanken teilen zu können. Sich auszutauschen. Zu hören, was in der Heimat passiert. Oder eben auch jemandem Erlebnisse berichten zu können, die hier passieren.

Mein ganz grosses Glück bisher ist es, dass nichts Gravierendes passiert ist. Ich konnte bislang alles gut eigenständig lösen. Die gebrochenen Speichen waren bislang wohl die grösste Herausforderung, die ich problemlos meistern konnte. Ich bin weiter verunsichert, ob sie halten werden – aber das ist wiederum schon weit über 1000 Kilometer her, es wurde nun alles gecheckt und neu eingestellt, es spricht viel dafür, dass von dieser Seite keine Probleme mehr folgen sollten. Und ja, das kann bei jedem Velo passieren. Ich hatte nur deshalb Ersatzspeichen dabei, weil ich von einem Amerika-Velo-Fahrenden gelesen hatte, der viele gebrochene Speichen gehabt hatte. In Europa bin ich wirklich überall durchgefahren, habe mein Velo nie geschont und hatte weder Probleme – noch Ersatzspeichen dabei.

Nun bin ich gespannt auf den dritten Teil meiner Reyse, der neue Herausforderungen bereithält und denke ganz ehrlich schon an einige ruhige Tage an der kalifornischen Pazifikküste. Hat schon seinen Charme. Aber vorher müssen noch einige Kilometer abgespult werden… Morgen soll nochmals ein Ruhetag folgen, Besuch des Mormonentempels, solche Dinge, übermorgen ein Ausflug an den Salzsee und Freitag die Weiterfahrt in Richtung Moab. Oder Zion. Oder, ach, vermutlich Süden. Vielleicht. Möglicherweise. Oder auch nicht.

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2 Gedanken zu „Tag 61 Rückblick“

  1. Lieber Herr Rey

    Vielen Dank, dass Sie diese Reyse machen. Ich kann mir vorstellen, dass das Erlebnis — die Götter behüten uns: Es soll schon einmal von Abenteuer die Rede gewesen sein — ,für sich alleine erlebt, nicht denselben Wert besitzt wie ein geteiltes. Ich weiss, wie wichtig das Ihnen ist, weshalb reysen.ch eine meiner häufigst besuchten Websiten ist.
    Ob es auch daran liegen könnte, dass sie mir auch einfach wichtig sind? Schwer zu bezweifeln. Auf jeden Fall schätze ich Ihr Unternehmen.
    Sie wünschen etwas über die Heimat zu erfahren? Kann ich vielleicht einmal nachholen, jetzt kommt zuerst Nachwuchs, und dann sind Sie ja schon bald wieder zuhause. Oder bleiben Sie for good? Ich höre, Chicago müsse noch gut sein…

    Beste Grüsse
    Mr. Bean

  2. Lieber Martin
    Wow. Gratuliere zu den ersten beiden Teilen Deiner Reise – ich bin beeindruckt (und immer wieder ein wenig neidisch). Täglich so viele Kilometer – täglich so viele Worte. Wow. Fast etwas „getriebenes“ kommt mir da entgegen (kenne ich zumindest von mir), etwas rastloses und auch eine gute, starke, inspirierende Energie. Cool.
    Danke auch für Deine persönlichen Gedanken hier im Post. Über 2 Formulierungen habe ich mir Gedanken gemacht:
    „Es stresst mich oft, wenn ich angesprochen werde“.
    Irgenwie schade, finde ich. Ich kann, wie Du, sehr gut alleine unterwegs sein. Doch wenn sich Interaktionen, Begegnungen auf Reisen ergeben sind diese eigentlich immer spannend. Und wenn eine Begegnung mal nervig sein sollte, auf einer Reise ist man ja schnell wieder weg.
    Während ich dies schreibe erinnere ich mich an ein wunderbares Buch „Fahrtwind-Gedanken“ von einem Namenvetter von Dir. Ich suche und finde die Stelle (Seite 85):
    „JETZT – DER SPIRIT DES REISENS:
    Auch beim Reysen gibt es Routinen, Zelt auf, ab, kochen, waschen, radeln, Route planen… Etwas ist jedoch ganz anders als zu Hause. Das JETZT zeigt sich viel stärker. Zu Hause: Sachen erledigen, Leute treffen, etwas wagen, kann alles heute oder morgen gemacht werden. Die Situation ist morgen immer noch die Gleiche, gleiche Nachbarn, gleiche Stadt, gleiche Arbeit, alles bleibt an seinem Ort. Der Soziologe Hartmut Rosa würde sagen, alles ist verfügbar. Auf Reisen ist das anders. Wenn ich etwas will, muss ich es JETZT packen, morgen bin ich wieder weg. Dies kann sein, etwas Schönes zu sehen oder zu machen, jemanden anzuquatschen und Gespräche zu führen oder ganz profan die Mega-lecker aussehende Eiweissschaumtorte mit Puddingboden und Puderzucker-Blätterteigdeckel halt schon morgens um 10 Uhr, kurz nach dem Morgenessen, zu schlemmen. Mitnehmen kann ich die nicht. All dies hilft im JETZT zu sein und macht das Reisen, ja das Leben – trotz vieler Routinen – spannend.
    Hartmut Rosa würde sagen, so eine Reise ist eine grosse Resonanzerfahrung, gerade weil vieles offen, unverfügbar ist (wenn ich ihn richtig verstanden habe). Resonanz entsteht nicht, wenn alles strukturiert und bis ins kleinste Detail festgelegt ist, wenn alles verfügbar ist. Resonanz entsteht, wenn vieles offen und unverfügbar ist. Bald kann es regnen – kann ich nichts dagegen tun, bald kann ich jemanden treffen, bald kann mich ein Musikstück auf einer Passstrase pushen, alles Resonanzerfahrungen.
    Aber zurück zum Thema. Ein weiterer Vorzug des JETZT: Auch wenn etwas danebengeht, eine Begegnung mühsam wird, eine Unterkunft enttäuschend, eine Strasse langweilig, bald ist es vorbei. Es ist also fast nur möglich zu gewinnen.“
    Soweit der Buchausschnitt.

    Der zweite Gedanke: „Mein ganz grosses Glück bisher ist es, dass nichts Gravierendes passiert ist“ schreibst Du oben.
    Sorry, lieber Bruder, was für ein Schwachsinn. Das erinnert mich an die unsägliche SUVA-Werbung: „Das Leben ist schön, solange nichts passiert“.
    Der Soziologe würde sagen: Ein Leben ohne Resonanzerfahrung. Wie langweilig.
    Natürlich ist mir schon bewusst, was dahinter liegt und ich bin ja auch froh, dass Du keine Unfälle / Krankheiten hattest, dass Dir „nichts passiert“ ist. Und auch die SUVA ist froh – im Fall – dass Dir nichts passiert.
    Ich hingegen finde: Es ist Dir ganz viel passiert, wer es nicht glaubt sollte sich den spannenden Blog auf reysen.ch zu Gemüte führen – unbedingte Leseempfehlung.

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