Eigentlich sollte meine Amereyka-Reyse auch Wahlkampfbeobachtung beinhalten. Diese kommt bislang zu kurz. Aber es gibt auch nicht viel zu sehen. Kein Beinahe-Bürgerkrieg, trotz zwei Attentatsversuche auf Donald Trump. Keine Demonstrationen, kein Aufruhr, keine Aufregung. Das habe ich andernorts wirklich schon anders erlebt. Und auch kaum Plakate, Schilder, irgendwas. Ich spüre den Wahlkampf nicht. Vielleicht sollte ich mehr TV schauen – aber der spiegelt natürlich auch nicht die Realität wider. Schilder, Plakate hat es vor allem für lokale Anliegen. Sheriff-Wahl. Senatorwahl. Wenige für Harris. Ein wenig mehr für Trump. Aber auch nicht wirklich viele. Einige dafür durchaus aufschlussreich.
„Save our children“ hat wohl mit Verschwörungstheorien zu tun, dass Demokraten Kinder missbrauchen und irgendwie von Kinderblut leben und, es ist schlicht zu absurd.
Ja, solche Plakate gibt es. Aber ich fühle keine mitreissende Stimmung. Vielleicht hat man die 2008 in den USA auch nicht gespürt. Aber ich erinnere mich an Obamas „yes we can“, an Lieder dazu, die mich sehr bewegt haben. Da war eine Kraft zu spüren, die ich hier nicht wahrnehme. Distanz zu Washington. Ich habe wirklich das Gefühl, dass der Wahlkampf in Europa mehr Wellen schlägt als in den USA.
Und gleichwohl. Ich lehne mich aus dem Fenster raus. Alle sagen, es wird knapp werden. Ich glaube es nicht. Ich glaube, Stand heute, keine schwarzen Schwäne, die noch auftauchen, Kamala Harris wird klar siegen. Irrtum vorbehalten. Und ich wiederhole Argumente, die ich schon erwähnt habe, die mir aber zentral erscheinen.
2016 ist nicht 2020 ist nicht 2024. Trump hat 2016 sehr knapp gegen Hilary Clinton gewonnen. Ein „black swan“ kurz vor den Wahlen hat wohl den Ausschlag gegeben – die Email Affäre. Clinton hatte fast 3 Millionen Stimmen mehr geholt, gleichwohl hat es wegen dem absurden Wahlmännersystem nicht gereicht. Trump war damals der Underdog, der Unbekannte, der den Wahlkampf aufgemischt hat, der für Aufbruch und etwas Neues stand. Make America Great again. Heute fehlt der Slogan, verkörpert Trump nur noch Stagnation, Frustration, Wut, Rache. Gleichwohl könnte er gemäss Umfragen gewinnen.
2020 Trump gegen Biden. Viele haben Biden gewählt, um Trump zu verhindern. Für Biden waren wenige. Er schien das beste Mittel, um Trump zu schlagen. Und das ist gelungen. Amtierende Präsidenten gewinnen die Wahl in der Regel, Trump hat gegen einen eher schwachen Herausforderer verloren.
Und 2024 ist nun nochmals alles anders. Biden hätte womöglich tatsächlich keine Chance gehabt gegen Trump. Die Alterssymptome zeigten sich schlicht zu stark. Allerdings hätte Biden wohl keine Chance gehabt gegen irgendwen. Unwählbar. Wenn Chance, dann gegen Trump. Aber gegen einen starken Kandidaten? Forget it!
Kamala Harris hätte ich auch keine Chance gegeben. Zu unbekannt, zu unbeliebt, zu sehr Quotenfrau, zu wenig erfolgreich. Gegen sie spricht weiterhin, dass Bidens Politik in den USA nicht so recht zu zünden vermag. Unbeliebt ist. Biden als schwachmat, als erfolglos gilt. Egal, ob es wirklich in seiner Verantwortung liegt oder nicht. Aber viele Amerikaner verstehen beispielsweise nicht, warum man die Ukraine so stark unterstützt. Kostet doch nur. Das Geld fehlt hier. Ja, natürlich muss man dem überfallenen Volk helfen, aber die Altersvorsorge ist doch wirklich miserabel. Hier in den USA. Und die Infrastruktur. Dann der Nahostkonflikt, der immer weiter zu eskalieren droht. Und Aussenpolitik ist eine der Hauptdomänen des US Präsidenten. Die Inflation frisst den Lohn weg und Washington entsendet wieder Truppen irgendwohin. Trump hat bei solchen Themen schon ein Ohr beim Volk, ob seine Lösungsvorschläge wirklich funktionieren würden ist fraglich. Aber es gibt gute Gründe für seine Beliebtheit bei grossen Volksschichten.
Ich schweife ab. Warum Harris gute Chancen hat? Wegen der Swifties. Wegen der Jungen, den Frauen, den Latinos, den Schwarzen. Weil sie neue Wählerschichten anspricht. Trump vs Biden war knapp. Zumindest vor der für Biden desaströsen Fernsehdebatte. Nun stellt sich die Frage: wer, der Biden gewählt hätte, wird nun nicht für Harris stimmen. Ich vermute wenige. Wer für Biden war, ist auch für Harris. Oder wer Biden gewählt hätte, um Trump zu verhindern wird jetzt auch Harris wählen.
Harris ist es aber innert kürzester Zeit gelungen, neue Wählerschichten anzusprechen. Junge, die weder Urgrossonkel Biden noch den kaum jüngeren Grossonkel Trump gewählt hätten. Frauen, die vielleicht schon eher für Biden waren, aber dann doch Trump gewählt hätten, weil man das halt so macht. People of Colour, die schon Obama gewählt haben, die sich von Biden nicht repräsentiert fühlten und ihre Hoffnung nun auf Kamala Harris setzen. Neuwähler. Erstwähler. Katzenfrauen. Leute, die einfach genug haben von der Polarisierung, die zu den bereits erwähnten Attentatsversuchen geführt haben. Aber auch Leute, die weder Harris noch Trump mögen, aber im Gespann Harris-Walz mehr Potential sehen als im Gespann Trump-Vance.
Bin ich zu optimistisch? Vielleicht. Harris steht womöglich zu links der Mitte. Gerne werden die Demokraten als sehr gemässigt dargestellt im Vergleich zur europäischen Linken. Das stimmt nur bedingt. Die demokratische Partei hat wie die republikanische eine grosse Bandbreite. Sie geht von sehr weit links bis tief in die Mitte hinein. Und gerade die woke Linke ist in den USA verhasst. Viele haben genug davon, bei jedem Wort darauf achten zu müssen, ob man was Falsches sagt. Genug von „affirmative action“, wo Leute auf Kosten anderer diskriminiert werden. Genug von Political Correctness, von Rufen nach „defund the police“, von Versuchen Geschichte umzuschreiben, die Rechte von Minderheiten über alles zu stellen. Viele wollen einfach ein normales, langweiliges, heterosexuelles Familienleben haben ohne permanent darauf hingewiesen zu werden, dass das aus diesem und jenem Grund böse sei. Sie wollen sonntags in die Kirche gehen, montags arbeiten und am Samstag fischen oder jagen. Ihre Kinder grösser werden sehen, ihre Grosskinder hüten und vor allem: sie wollen, dass es ihren Kindern und Grosskindern nicht schlechter geht als ihnen. Und da haben manche immer grössere Zweifel.
Die Frage stellt sich, ob es Harris gelingt, sich stark genug von der woken Linken abzugrenzen, um die Stimmen der Mitte zu gewinnen (oder nicht zu verlieren), gleichwohl aber nicht die Stimmen der (woken) Linken zu verlieren, respektive auch diese Stimmen zu gewinnen. Denn es gibt nicht wenige Linke, die Biden – trotz Trump – nicht gewählt hätten. So hatte Al Gore die Wahl 2000 gegen George W. Bush verloren. Es ging um gut 10’000 Stimmen, die Gore in Florida gefehlt hatten. Der Grüne Ralph Nader hatte trotz Null Chancen beinahe 100’000 Stimmen in Florida geholt. Hätten diese Leute stattdessen Al Gore gewählt, hätte der gemässigt Linke Gore die Wahl gegen den Konservativen, zumindest gemässigt rechten Bush gewonnen.
Doch kann eine dunkelhäutige Frau mit indischen Wurzeln amerikanische Präsidentin werden? Gemäss „wokem“ Weltbild dürfte das doch gar nicht möglich sein, da Dunkelhäutige und Frauen grundsätzlich („systemisch“) diskriminiert und jeglicher Chancen beraubt werden. Was mich an Harris fasziniert, ist ihr Auftreten. Ich hatte mich bislang wenig mit ihr auseinandergesetzt und kurz nach dem Rückzug Bidens eine Rede von ihr gehört. Körpersprache sehr überzeugend, Rhetorik professionell, da war eine Kraft zu spüren, die sie im darauffolgenden Wahlkampf weitertrug. Politische Inhalte? Nicht wirklich klar. Aber auch nicht wirklich absurd, nicht weird. Abwägend. Nicht komplett unvernünftig. Dafür kämpferisch. Zumindest Führungsstärke zeigend. Und dann der Handschlag. Ich bestimme. Wir haben uns bislang nie offiziell getroffen? Also gehe ich auf dich zu, stelle mich dir vor, „Kamala Harris“, gebe dir die Hand. Brillant.
Am nächsten Tag in New York der nächste Handschlag, ich habe es bereits erwähnt, Trump wirkt auf mich unterwürfig. Es sind meines Erachtens solche Elemente, die zählen. Natürlich gibt es Leute, die keine Frau wählen würden. Die niemals eine dunkelhäutige Person wählen würden. Und trotzdem gewann Obama zweimal, würde angeblich Michelle Obama „blind“, ohne politische Erfahrung gewählt werden, würde sie denn kandidieren. Vielleicht haben wir es auch hier um eine woke Verfälschung zu tun. Merkmale wie Race oder Gender spielen eine Rolle. Aber sie sind längst nicht so entscheidend, wie gerne dargestellt. Die Welt hat sich verändert.
„Schüsse auf dem Golfplatz – ein hasserfülltes Amerika erlebt surreale Stunden“. So der Titel eines Artikels im Tages Anzeiger vor Kurzem. Ich erlebe Amerika überhaupt nicht als hasserfüllt. Im Gegenteil erachte ich einen solchen Titel als Frechheit. Und vielleicht ist es genau das, was ich meine mit ich spüre den Wahlkampf nicht. In den Medien wird die Lage massiv überspitzt dargestellt. Viele haben genug von Politik. Ja. Aber hasserfüllt? Nein. Das Leben geht hier seinen Lauf. Der Hamburger ist teurer geworden? Biden ist schuld. Unter Trump war es besser. Möglich. Empfinden manche so. Aber hasserfüllt? Das scheint mir mehr ein Bild der Medien zu sein. In denen der Wahlkampf tobt. In der Kneipe aber läuft Football, Baseball, die neuste Spielshow. Politik? Was kümmert uns das. Die in Washington machen eh, was sie wollen…
Lieber Herr Geheimrat
Das sind wertvolle Einschätzungen aus nächster Nähe, die Sie uns da liefern. Der Tagi kann — sowieso — einpacken.
Was mich fasziniert, ist die Tatsache, dass Bundespolitik offenbar überhaupt niemanden interessiert. Also doch, denn am Ende zählt der Sprit- oder Hamburgerpreis, und an dem sind die in Washington schuld. Womit wir bei den Medien wären.
Sie liegen wohl richtig, wenn Sie ahnen, dass uns in Europa die Präsidentschaftsfrage eher martert als drüben. Woran das liegen könnte? Hmmm vielleicht am gewohnten Schulterschluss mit Uncle Sam? Ja, die Zeitungen berichten schon länger von den aussenpolitischen Auswirkungen einer Wahl von Donald Trumpf. Roger Köppel tut Seiniges.
Wenn wir schon bei den Medien sind: Vance nimmt ja neuerdings kein Blatt vor den Mund und gibt offen zu, Geschichten, also Stories, zu erschaffen, damit das wahre Amerika zu Worte kommt. So soll er letzten Sonntag in einem CNN Live-Interview gesagt haben:
“If I have to create stories so that the American media actually pays attention to the suffering of the American people, then that’s what I’m going to do,”. Spannend, oder? Oder auch nicht, weil es schliesslich genau diese News affine und privilegierte Schicht anspricht, die sowieso Harris wählt.
Damit gute Nacht!
Mr. Bean