Leben ist etwas Wunderbares. Aber auch Geheimnisvolles. Wenn wir sagen, dass neues Leben entstehe, ist das streng genommen falsch. Leben ist vermutlich genau einmal entstanden und alle heutigen Lebewesen stammen von diesem Ur-Leben ab. Denn das ist das Spezielle am Leben, es ist zugleich endlich und (beinahe) unendlich. Leben ist wohl vor rund 4 Milliarden Jahren entstanden, existiert bis heute und wird wohl auch noch in vielen vielen Jahrmilliarden existieren. Doch kein Lebewesen existiert seit 4 Milliarden Jahren, sondern Leben wird weitergegeben. Es gibt nicht ein Lebewesen, das das Leben erleben darf, sondern wir alle müssen auch wieder Abtreten, um neuem Leben Leben zu ermöglichen. Was eigentlich etwas sehr Schönes ist. Würden einige Lebewesen ewig leben und hätten keine Nachkommen, dann gäbe es uns heute nicht. Würden Lebewesen ewig leben und hätten Nachkommen, dann entstünde ein Paradox: Da Lebewesen Ressourcen verbrauchen, Ressourcen aber endlich sind, müssten unsterbliche Lebewesen sterben. Dass Leben vergänglich ist, ist eigentlich etwas Schönes. So ungern ich das sage. Leben ist ein Kommen und Gehen. Nur das Leben an sich, das bleibt. Und manifestiert sich in einer unfassbaren Vielfalt.
Als kinderloser Mann wird mit mir eine Lebenslinie aussterben. So sich daran nichts mehr ändert. Meine Ahnenreihe lässt sich theoretisch vier Milliarden Jahre zurückverfolgen, aber mit mir wird sie enden. Stolz bin ich nicht darauf, aber es ist auch kein Drama. Sondern ein einfacher, evolutionärer Vorgang.
Solche Gedanken mache ich mir heute im bislang schönsten Hotel. Respektive dem schönsten Hotelpool. Ein Zufallsfund, weil das einzige auf Booking zu findende Hotel bereits ausgebucht war. Die Palmen sind zwar nicht echt, aber im Hintergrund rauscht der San Juan River, es ist angenehm warm und ruhig. Auf solche Gedanken gebracht haben mich heute zwei Dinge: Tilda und Rehe („Deers“).
Kurz nach Verlassen von Monticello steht ein Schild. Die nächsten 10 Meilen: Vorsicht Rehe („Deers“). Ich fotografiere das Schild nicht, da Wildunfälle so unfassbar zahlreich sind in diesem Land. Und tatsächlich: schon kurze Zeit später fahre ich erst an einem, wenige hundert Meter an einem zweiten „Deer“ vorbei. Beide erst seit kurzem tot. Selbst das keine wirkliche Häufung, ich habe schon Schlimmeres gesehen, aber mir fällt der Zaun auf, der links und rechts der Strasse durchgeht. Über zwei Meter hoch. Strassen sind entweder mit einem Tor geschlossen oder verfügen über diese Rillen, wo Wild nicht darübergehen kann. Und dieser Zaun ist mindestens 10 Meilen lang. Zwischendurch hat es spezielle „Lücken“, die für „Deers“ nur als Ausweg genutzt werden können. Obwohl die Tiere unfassbar elegant springen können sind die zwei Meter definitiv zu hoch und auch die Durchlässe zu steil. Auf der Seite der Strasse hingegen sind Erdwalle aufgeschüttet, die es den Tieren ermöglichen sollen, die Strasse wieder zu verlassen. So sie die Auswege finden.
Ich wundere mich wie es die beiden „Deers“ über den Zaun geschafft haben könnten und bald ist die Lösung klar: sie haben es nicht. Sie sind der Strasse entlang gelaufen. Die einzige Schwachstelle an diesem Konzept. Erschreckend finde ich aber vor allem: zwei „Deers“ haben sich verlaufen – und kurz darauf sind beide tot. Kollision mit Autos. Obwohl es nur wenige Autos hat. Geschah es in der Nacht? Aber selbst dann. Rennen die auf die Lichter zu?
Eines jedenfalls ist klar. „Deers“ sind nicht vom Aussterben bedroht. Auch wenn es viele Wildschäden gibt, noch viel mehr überleben und vermehren sich. Erhalten das Leben. Das auch nach ihrem Tod weitergeht, obwohl sie ihr Leben aushauchen. Faszinierend irgendwie.
Und mit Tilda hat heute (respektive gestern) ein neuer Erdenbürger das Licht der Welt erblickt. Und mich zum Nachdenken angeregt. Nein, ich habe mir nie Kinder gewünscht, ich konnte und kann mir nicht vorstellen, Kinder zu haben. Aber womöglich hätten potentielle Kinder von mir – gelebt haben wollen.
Lieber Reyman
Schon wieder passiert.
Einmal mehr hat mich ein Beytrag reingezogen, mir den Odem frisiert und wieder rausgeschickt. Was mit mir los ist? Ich habe gerade der Mutter von Tilda dieses schöne Nachdenken vorgelesen (ich gebe zu, bei den Deers habe ich etwas vorgespult). Ihr letzter Satz ist irre. Mal gespannt, was Bro dazu sagen wird. Er hat ja Rosa ins Spiel gebracht… Mist, wollt ich auch…. Auf jeden Fall sagt mir meine Frau nach dem Vortrag, sie wisse schon, wieso ich mich mit dem Reyman so gut verstehe. Stimmt.
Aber so schliesse ich heute nicht. Ich möchte mitteilen, dass ein neues Leben ins Mark geht. Ihr wisst, wohin, meine Brüder. Dort, wo die Worte nur Dunst sind. Wie sich’s lebt, wenn man Leben weitergibt? Auch hier nur Annäherungen: Vielleicht so, wie wenn man mitten auf einer Reyse einem Bären begegnet und ausgemacht ist, dass jetzt alles sehr schnell enden wird. Und doch geht’s anders aus, weil man sich mit schwerem Ernst völlig frei erkennt. Und dann gehen beide wieder ihrer Wege, im Wissen darum, einander kein zweites Mal mehr zu sehen.
Nein, ich bin kein Bär, aber ich glaube daran, dass Leben in all seiner Mannigfaltigkeit am Ende aufs Eins zurückfällt: ein Pakt, der keiner Worte bedarf.
Herzlich Willkommen, liebe Tilda, auf dieser schönen Erde.
Deine Reise hat soeben begonnen – lass Dich inspirieren von den gescheiten Gedanken Deines Vaters oder auch von den schönen Bildern meines Bruders.
Ich selber bin kein Philosoph, eher ein einfaches Gemüt, mir fallen bei einer neuen Erdenbürgerin keine Zitate der Herren Kierkegaard, Kant oder Sokrates ein, sondern die einfachen aber berührenden Gedanken eines patentierten Abfallkübelbandleaders ein:
„Uf au die schöne Ching
Wo hüt znacht gebore wärde
Uf die grüene Triebe
Uf die süesse Frücht ide Böim
Uf aui grosse Plän u
Uf aui grosse Tröim
Uf au die wo fiire u no singe
Uf au die wo sueche
U wo vilech sogar finge
Es Glas uf d’Liebi und eis uf z’voue Läbe“
Und noch apropos Rosa:
Rosa-Kleidchen gefallen Tilda sicher bestens (ausser sie möchten ihre Tochter von Anfang an Genderneutral erziehen und Rosa bzw. Blau sind Tabufarben).
Auf alle Fälle: alles Gute und ruhige Nächte