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Tag 126 Schattenseiten

Habe ich schon erwähnt, dass ich mich in Nola wohlfühle? Ja, wir sind inzwischen schon bei den Kosenamen angelangt. Das heisst aber nicht, dass hier alles bestens ist. Wie schon erwähnt, hat es eine hohe Kriminalitätsrate von der man im Zentrum ausser hoher Polizeipräsenz nichts mitkriegt. Was es aber auch hat sind – wie in fast jeder grösseren Stadt in den USA – viele Obdachlose. Es erstaunt mich, dass es nicht mehr Programme dagegen gibt. Denn die Situation ist offensichtlich für alle eine Belastung. Zum einen natürlich für die davon Betroffenen, die unter absolut unwürdigen Bedingungen am Strassenrand übernachten. Auf dem nackten Betonboden liegen, eingehüllt in eine Decke, wo ich im Zelt mit Matte und Schlafsack gerade so klar gekommen bin. Es ist einfach so unfassbar krass.

Aber eben auch für die Anwohner. Es ist nicht schön, das anzusehen. Zumindest mir tut es jedes Mal im Herzen weh. Es müsste eigentlich ein grosses Interesse geben, Lösungen zu finden, aber irgendwie scheint es politisch nicht besonders weit oben auf der Prioritätenliste zu stehen. Vielleicht weil wie ich schon einmal erwähnt habe in den USA mehr ein calvinistisches Denken vorherrschend ist – wer arm ist, ist selber schuld, respektive wird in Armut ein Zeichen dafür gesehen, dass jemand nicht die Gnade Gottes gefunden habe.

Viele scheinen gar nichts zu besitzen ausser ihre Kleidung, manche noch wenige Habseligkeiten, immer wieder sitzen Leute auch im Rollstuhl, viele haben offensichtliche psychische Probleme oder sind auf Drogen. Leben in einer Art Parallelwelt mitten in den Stadtzentren, im wörtlichsten Sinne übergangen, ignoriert, verdrängt.

Hintergrund der Obdachlosigkeit ist sicherlich die erwähnte kulturelle / religiöse Einstellung vieler Amerikaner. Eigenverantwortung. Wer arm ist, ist selber schuld. Eine Abneigung gegen staatliche Umverteilung. Die nun auch Trump wieder ins Amt gehievt hat. Gerade das „Ausmisten“ in Washington scheint eine der ersten Prioritäten seiner zweiten Amtszeit zu werden. Den Staat zurückzudrängen, seine Macht einzuschränken. Und das ist durchaus populär in den Staaten.

Das ist nicht zwingend falsch und zum Beispiel in Argentinien (wie damals auch in Griechenland) wohl alternativlos. Wo zu viele Menschen (oft viel zu hohen) Lohn vom Staat erhalten haben, ohne wirklichen produktiven Output zu generieren. Das funktioniert langfristig nie. Zu viel Staat – das Extrem finden wir wohl ohne Ausnahme in jeder Form von Sozialismus – führt irgendwann zum Bankrott und damit zu sehr schmerzhaften Reformen. Geht wirtschaftlich schlicht und einfach nicht. Ein Staat, der über lange Zeit mehr Geld ausgibt als er einnimmt und mit den Ausgaben nicht Investitionen in die Zukunft finanziert, sondern beispielsweise ausufernde soziale „Nettigkeiten“ (vgl. Nachtrag am Ende des Beitrags), dem bleiben irgendwann noch zwei Optionen: Staatsbankrott, respektive Hyperinflation und wirtschaftliche Rezession (wie schon zigmal in Argentinien), oder harte Sparmassnahmen. Ob die radikale Herangehensweise eines Javier Milei zielführend sein wird, sei dahingestellt. Es gibt aber historische Beispiele wie Polen nach 1989, wo nach einer kurzen, äusserst heftigen Krise mit harten liberalen Reformen sich die Lage langfristig verbessert hat. Und das besser funktioniert hat als eine langsame, allmähliche wirtschaftliche Anpassung. Zudem hat Milei nicht mal eine Mehrheit im Parlament, ist seine Macht zumindest noch im Moment stark beschränkt. Im Unterschied zu Trump.

Und das Problem mit Trump ist auch ein ganz anderes: sein Wahlprogramm scheint wirtschaftlich sehr wenig Sinn zu ergeben und ist eben gerade kein Sparprogramm aus Notwendigkeit. Wie in Argentinien, dem ehemaligen (sozialistischen) Ostblock oder auch Griechenland. Zum einen stehen die USA nicht kurz vor dem Staatsbankrott und haben auf jeden Fall noch Potential für weitere staatliche Eingriffe – Stichwort Obdachlosigkeit, bessere Krankenversicherung etc. Und zum anderen will Trump die Staatsausgaben gerade massiv erhöhen. Was in Zusammenhang mit einem massiven Zusammenstreichen von staatlichen Leistungen kaum funktionieren und zu gravierenden neuen Problemen führen wird. Dazu kommen seine so geliebten Zölle, die vor allem zu Inflation führen. Vielleicht verstehe ich sein wirtschaftliches Programm einfach nicht (und nein, es gibt in der republikanischen Partei durchaus Leute, die von Wirtschaft eine Ahnung haben) – oder vielleicht ergibt es auch schlicht keinen Sinn.

Der „deep state“, das Staatsmoloch wurde in den USA schon in den 90er Jahren als Problem thematisiert. Washington ist weit und seine Massnahmen äusserst ineffizient, so die Haltung vieler Amerikaner. Für das (radikale) Zurückdrängen des Staates wird Trump vielleicht keine Mehrheit hinter sich haben, aber auf jeden Fall eine grosse Minderheit. Und dies obwohl die USA vor allem im Bereich des Sozialstaates grosse Defizite aufweisen wie eben jenes der Obdachlosigkeit.

Und der Kampf gegen Obdachlosigkeit wie auch eine zumindest minimale Krankenversicherung gehören definitiv nicht zu den von mir oben etwas despektierlich genannten sozialen „Nettigkeiten“. Sondern gehören in meinem Verständnis klar zu den staatlichen Pflichten. Und hier wird es schnell schwierig. In den USA braucht es nicht viel, um seine Wohnung zu verlieren. Es ist viel leichter Arbeitern zu kündigen als in Europa. Das verleiht der Wirtschaft eine höhere Dynamik (man vergleiche die Entwicklung des BIP), allerdings mit gravierenden Nebenkosten, die man eben in jeder grösseren amerikanischen Stadt beobachten kann. Es gibt einen grossen Mittelstand in den USA, aber auch viel zu viele Menschen, die durch die grobmaschigen Netze der sozialen Sicherheit fallen. Und so wirklich verstehen tue ich nicht, warum hier keine Massnahmen ergriffen werden. Das kein Thema ist in irgendeinem Wahlkampf. Die Republikaner verbieten Obdachlosigkeit (ernsthaft!), die Demokraten ziehen sie durch höhere Sozialleistungen an und scheinen dennoch machtlos dagegen. Und eine Lösung ist weit und breit nicht sichtbar.

Der europäische Weg ist aber vermutlich auch nicht einfach der Richtige. Schweden beispielsweise, das gerne als Leuchtturm dargestellt wird, durchlief in den 90er Jahren harte liberale Massnahmen (was gerne vergessen geht) und steht heute vor grossen sozialstaatlichen Herausforderungen. Frankreich und Italien stagnieren wirtschaftlich – und leider auch Deutschland, wo zu viel Bürokratie und unter anderem zu hohe Sozialausgaben wie zu hohe Energiekosten zu einer wirtschaftlichen Lähmung geführt haben. Ohne liberale Reformen wird es wirtschaftlich kaum wieder aufwärts gehen, doch solche sind äusserst unbeliebt und werden gerne massiv bekämpft (man denke an die Gelbwestenproteste in Frankreich).

Gerade Deutschland als Exportnation steht im globalen wirtschaftlichen Wettbewerb und ist durch die hohen Abgaben und die teuren Energiekosten heute kaum noch konkurrenzfähig. Was leider auch auf weitere grosse Staaten Europas zutrifft und wohl in nächster Zeit zu einer gewaltigen Herausforderung für ganz Europa führen wird. Schulden machen ist beliebt, denn bezahlt wird erst in Zukunft, wenn die Regierung nicht mehr an der Macht ist. Nachhaltig ist eine solche Politik leider keineswegs.


Die folgenden Bilder sollen von der Obdachlosigkeit in New Orleans einen Eindruck geben, wie es sich aber anfühlt in einer solchen Lage zu sein, wage ich mir nicht mal wirklich vorzustellen. Es ist nur noch ein dahinvegetieren, ein den Tag abwarten, ohne Aufgabe, ohne Sinn und Zweck.

Über die Zustände in San Francisco berichtet dieser Vlogger mit eindrücklichen Bildern. 2019 war das Elend noch weiter verbreitet, heute findet es sich vor allem noch im Stadtviertel Tenderloin, das allerdings auch sehr zentral gelegen ist.

Ich sitze im ältesten Gebäude von New Orleans (die Stadt ist mehrfach abgebrannt, dieses ist aus Stein). Heute ist es eine Bar, die Stimmung ist gewaltig. Take me home, country roads. Alle grölen mit. Von posteligerischer Depression ist definitiv nichts zu spüren.

Nachtrag: Mit dem Begriff soziale „Nettigkeiten“ habe ich mich mal wieder in die Nesseln gesetzt. Ich meine damit vor allem Exzesse wie sie eben in manchen Ländern vorkommen wie stark überhöhte staatliche Löhne, Frühpensionierungen bei vollem Lohn, sehr geringe Arbeitszeiten etc. In Griechenland gab es dazu extreme Beispiele, vermutlich gehört dazu aber auch die 35 Stunden Woche mit extrem vielen Feiertagen in Frankreich oder ein zu hohes, zu wenig reglementiertes Bürgergeld in Deutschland, die die Wirtschaft strangulieren. Eine Grenze zu ziehen ist aber schwierig und natürlich gibt es sehr viele Faktoren, die hier hineinspielen.

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Ein Gedanke zu „Tag 126 Schattenseiten“

  1. Eindrücklich wie Du die sozialen Zustände in Amerika beschreibst.
    Treffen sich hier die religiösen Richtungen Calvinismus und Buddhismus? „Wenn es Dir mies geht, bist Du selbst schuld oder hast es halt im vorherigen Leben verkackt.“ Der liebe Gott scheint hüben wie drüben eine wirklich zynische Ader zu haben.

    Du erzählst die Geschichte des Elends in erster Linie mit dem überbordenden Sozialstaat, mit Bürokratie (z.B. Deutschland) oder Argentinien, Griechenland und dutzende anderer Staaten (einander Nettigkeiten zuschanzen = Korruption). Das ist sicher nicht falsch doch auch sehr einseitig (hier komme ich wieder mit meinem Ambiguitätsdingsbums).
    Die Exzesse sind meines Erachtens ebenso auf der anderen Seite der Armut zu finden: Geld, Reichtum, Überfluss sind an so vielen Orten anzutreffen. Wer hat, dem wird gegeben. Und was man hat wird behalten (ausser ein paar Almosen, man möchte ja ein guter Mensch sein und schliesslich steht auch Weihnachten vor der Tür).

    – Warum gibt es soviele Steuerschlupflöcher? Und warum gilt Steuervermeidung als Volkssport während es daneben vielen Menschen wirklich beschissen geht?
    – Warum werden jede Woche in der Sonntagszeitung 3-4 Fragen beantwortet „Habe 1 Million in XY investiert und noch 1 Hypothekenbefreites Haus, soll ich mit meinem Bargeld von 500’000.– noch in Dividenenperlen investieren oder in strukturierte bla bla bla“. Jede Woche gibt es ernsthafte Antworten dazu. Das ist die Normalität der SZ-Lesenden. Und da soll mir jemand sagen, es gäbe kein Geld.
    – Warum gibt es keine (moderate) Erbschaftssteuer?
    – Warum gibt es überall immer fettere Karren, Teslas, Jaguars, SUVS etc.?
    – Warum ist Overtourismus ein ernsthaftes Problem geworden? Wohl ein klares Indiz, dass Geld für immer mehr Leute vorhanden ist.
    – Warum ist es heute normal, dass viele Manager mehr verdienen als ein Bundesrat?

    Ja, es ist unglaublich kompliziert und bürokratisch geworden (z.B. EU) und da haben Linke wie Rechte ihren Anteil. Linke, weil sie (zu Recht) Rechte von Arbeitnehmenen und Natur vertreten und dafür braucht es Gesetze und Kontrollen. Rechte (bzw. Neoliberale), weil sie überall neue Schlupflöcher finden, um den eigenen Vorteil zu maximieren, was wiederum neue Gesetze nach sich ziehen muss. Bei zuvielen Gesetzen wird es schnell kompliziert und unflexibel, was der Wirtschaft wieder schadet. Die Schlupflöcher werden noch perfider oder eleganter (je nach Sichtweise), ein Paradies für Rechtsanwälte und Bullshit-Jobs. Noch eine grosse Prise Korruption, Arroganz und Narzissmus dazu und wir haben den Salat.

    Was ich eigentlich sagen will: Es ist nicht einfach der Staat der wegen seinen Nettigkeiten mit Kahlschlägen à la Mileil und dem Konzept Liberalismus „gerettet“ werden muss. Gerade der Liberalismus, der sich nicht für die Nöte der Menschen und die Natur interessiert (jeder ist für sich selbst verantwortlich – ist der Liberalismus eigentlich auch ein religiöser Verein – siehe Calvinismus, Buddhismus?), muss zwingend wieder von Regulierungen gebändigt werden, und dann geht das Spiel von Neuem los.

    Zusammenfassung:
    Geld wäre vorhanden (für menschenwürdiges Leben für Alle).
    Gier ist leider auch vorhanden und sehr salonfähig.
    Moralische, religiöse und ultraliberale Konzepte schaden mehr als sie nützen („sälber gschuld“).
    Sozialismus funktioniert nicht.
    Staaten neigen dazu, bürokratisch, fett und korrupt zu werden.
    Lichtblick Schweiz: Die Stimmbürgenden 🙂 haben dieses Wochenende eigentlich ganz vernünftig abgestimmt.

    Aber was schwafle ich da: viel besser, kürzer, einfacher und poetischer hat es schon vor Jahren ein Berner namens Matter gesagt:

    „Dene wos guet geit, giengs besser
    Giengs dene besser wos weniger guet geit
    Was aber nid geit, ohni dass′s dene
    Weniger guet geit wos guet geit“

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