Der erste Sturz ist mehr als glimpflich verlaufen. Nicht mal Schürfungen oder irgendwas kaputtgegangen. Ein Lieferwagen auf dem Veloweg, ich umkurve ihn, scanne wie so oft mit den Augen die Umgebung und übersehe diese schwarzen Teile. Ich richte mich möglichst schnell wieder auf auch um zu signalisieren, dass nichts passiert ist. Gleichwohl werde ich von zwei Leuten angesprochen, ob alles OK ist. Vielleicht ist das auch nicht überraschend, hat mich aber gefreut.
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Ich war auf dem Weg zur Villa Grimaldi. Einer der wenigen Orte in Chile, die an die Schreckensherrschaft unter Augusto Pinochet erinnern. Ich hatte keine Ahnung, was mich da erwarten würde, ich ging davon aus, dass es eine Villa mit Park ist. Und kaum Hinweise auf die grausame Vergangenheit. Völlig falsch. Die Villa wurde in etwa zur Zeit von Pinochets Machtabgabe zerstört, offiziell um für einen Neubau Platz zu machen und es ist ausschliesslich eine Gedenkstätte. Habe ich wohl die Berichte im Internet zu wenig genau gelesen, es zeigt aber vor allem auch, dass die Aufarbeitung der Herrschaft von Pinochet nicht im Zentrum steht in diesem Land. Und das Ganze ist schwierig.
Es gibt wenig einigermassen neutrale Literatur zu den Geschehnissen im September 1973 als die sozialistische Regierung unter Salvador Allende durch Augusto Pinochet gestürzt wurde. Von linker Seite wird es gerne so dargestellt, dass der demokratisch gewählte Allende durch einen durch die USA durchgeführten Militärputsch von der Macht abgesetzt und durch den faschistischen Pinochet ersetzt worden sei. Impliziert wird, dass wäre Allende an der Macht geblieben alles gut gekommen wäre.
Das ist doch etwas einseitig. Die CIA hatte auf jeden Fall ihre Finger mit im Spiel, den Putsch aber definitiv nicht initiiert. Der Auslöser davon war vielmehr die miserable Wirtschaftslage mit Hyperinflation, die aus der sozialistischen Politik Allendes resultiert hatte. Und Pinochet galt (auch in den USA) eher als gemässigter, etwas biederer Vertreter des Militärs. Das stellte sich leider als Irrtum heraus.
Jared Diamond schreibt in seinem Buch „Krise: Wie Nationen sich erneuern können“, auf das ich mich hier wesentlich stütze den folgenden Satz: „Aber 1973, nur sechs Jahre nach meinem Besuch, wurde das Land von einer Militärdiktatur beherrscht, die den bisherigen Weltrekord für staatlich verübte, sadistische Folter brach.“
Im Reiseführer von Stefan Loose steht zur Herrschaft von Pinochet: „Unter Pinochet und seiner Junta verwandelte sich Chile in einen Friedhof. Auf Regimegegner wurde förmlich die Jagd eröffnet – die Intelligenzia floh ins Exil, nach Europa oder in Länder Lateinamerikas, in denen demokratische Regierungen herrschten. Beispiellose Einschüchterungskampagnen folgten, und offenbar holte sich der chilenische Geheimdienst DINA ehemalige SS- und SA-Spezialisten für Folterungen an Gefangenen, die auch in der deutschen Colonia Dignidad stattfanden. Das öffentliche Leben kam zum Erliegen, verursacht durch permanente Ausgangssperren.“
Diese Schilderungen erstaunen mich als ich heute die Villa Grimaldi besuche. Dieses Anwesen, das früher auch als Cafe genutzt worden war, war anscheinend das Folterzentrum des Regimes. Doch es ist – erstaunlich klein, was irgendwie nicht zu den obigen Schilderungen passen will.
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Das grosse Gebäude im Zentrum ist die Villa Grimaldi, die heute nicht mehr existiert. Die Baracken oben links waren meinem Verständnis nach die Unterbringungen für die Gefangenen. Auch im Turm unten links gab es Zellen. Das ist sehr überschaubar beispielsweise verglichen mit dem Gefängnis S-21 in Kambodscha, das ich vor Jahren besuchte und wohl hiermit vergleichbar war. Allerdings war die Villa Grimaldi von 1975-1988 in Betrieb und sollen gemäss Wikipedia mindestens 4500 Menschen gefoltert und 241 davon getötet worden oder bis heute verschollen sein. Auch hier hätte ich mit massiv höheren Zahlen gerechnet.
Natürlich gab es viele weitere Gefängnisse und Lager unter Pinochet. Ich wüsste aber von keinem, das sich als Gedenkstätte besuchen liesse. Es wird kaum thematisiert. Die sicherlich bekannteste Ausnahme ist die Colonia Dignidad, mein nächstes Ziel und damit Inhalt eines folgenden Posts. Dort werde ich aber auch kaum mehr Informationen über die Herrschaft Pinochets erhalten.
Und damit bleibt das Ganze für mich weiterhin schwer fassbar. Verstärkt wird das durch zwei Stimmen, die Jared Diamond sprechen lässt: „Die meisten jüngeren Chilenen spotten zwar heute über Pinochet, aber die gespaltenen Ansichten der Chilenen, die so alt sind, dass sie sich an die Allende- und Pinochet-Jahre erinnern können, wurden für mich am Beispiel zweier Ehepaare deutlich, mit denen ich mich unterhielt. In beiden Fällen baten mich Ehemann und Ehefrau, sie getrennt zu befragen, weil sie in diesen schmerzlichen Fragen unterschiedlicher Meinung waren. In beiden Fällen sagte der Mann dann sinngemäß zu mir: »Pinochet hat Chile wirtschaftlich genützt, aber Folter und Mord sind nicht zu entschuldigen.« Und die Frauen sagten: »Pinochets Folterungen und Morde waren böse, aber man muss verstehen, dass seine Politik für Chile wirtschaftlich von Nutzen war.“
Natürlich ist das nicht repräsentativ. Aber irgendwie scheint es zu passen. Ich fuhr heute noch durch das wohlhabendste Viertel Santiagos. Schöne Häuser. Umzäunt. Ein BMW SUV. Ein Range Rover. Aber keine Porsches, Ferraris oder Rolls Royce. Dafür ein paar hundert Meter weiter ein nächstes Einkaufszentrum. Gut besucht. Moderne Geschäfte. Attraktiv. Für den Mittelstand. Den es hier unbedingt gibt. Der recht gross zu sein scheint. Meine Wahrnehmung also: in Chile gibt es grosse Armut, einen grossen Mittelstand, aber die wirklich reiche Oberschicht blieb mir bis jetzt verborgen. Die Ärmsten sind wohl tendenziell ärmer als in Ost- oder Südeuropa, aber viele, ausgedehnte Mittelstands-Quartiere scheinen mir nobler und edler zu sein als in den meisten dortigen Städten. Und das zeigen auch die offiziellen Zahlen: Wirtschaftlich ist Chile im Vergleich innerhalb Lateinamerikas sehr erfolgreich und kann mit Europa mithalten. Gleichwohl gab es vor wenigen Jahren schwere Proteste, die die grassierende Ungleichheit anprangerten. Ein Verständnis dieses Landes habe ich definitiv noch nicht erlangt.
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