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Ambiguitätsdingsbums

Ich mag mich gut erinnern wie die SP Schweiz (oder das 1. Mai Komitee) Ende der 90er / Anfang der Nuller Jahre Hugo Chavez an die 1. Mai Feierlichkeiten eingeladen hat. Natürlich ohne Erwartung, dass die Einladung angenommen werden würde. Chavez galt als Held, der nach Dutzenden kompletten Fehlschlägen endlich den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in Venezuela einführen sollte. 20 Jahre später destabilisiert das zum Armenhaus gewordene Venezuela ganz Amerika. Venezuela, Herr Chilly, nicht Chile. Millionen sind aus dem Land geflüchtet, bilden in vielen Ländern Süd- und Nordamerikas eine neue Unterschicht, viele davon arbeiten illegal zu unmenschlichen Bedingungen in Jobs, die sonst niemand machen würde (!), betteln, verkaufen irgendwelche Waren am Strassenrand und wohl nicht wenige (so zumindest der Vorwurf) werden auch kriminell. Der Sozialismus ist ein weiteres Mal grandios gescheitert. Doch wer das hervorhebt, wird gerne als rechts diffamiert, denn das nächste Mal, ganz bestimmt, das nächste Mal wird es funktionieren. Nach Pol Pot, Mao Zedong und Stalin. Chavez hatte das schon richtig, aber Maduro. Und das US Embargo. Aber ganz sicher lag der Fehler nicht in der Ideologie!

Nein, auch ein nächstes Mal wird es nicht funktionieren. Warum ist das so schwer zu verstehen? Die Antwort lautet wohl, weil die Linksextreme Intuitionen und Gefühle anspricht. Wir wollen doch nur den Reichen nehmen und den Armen geben. Mehr Gleichheit und Gerechtigkeit herstellen. Wer kann da schon dagegen sein. Die Ziele sind ehrenhaft, aber der Weg offensichtlich falsch. Wer das kritisiert, setzt sich aber schnell in die Nesseln. Der ist ja dagegen mehr Gerechtigkeit herzustellen, also ein Unmensch!

Alternativen wären das Rechtsextreme, das Liberalextreme oder das Ambiguitätsdingsbums. Bin da ganz bei Bro. Das Ambiguitätsdingsbums ist die Lösung. Das Problem ist einfach, dass aus linker Perspektive (um die es hier geht) Kritik allzuoft nicht aufgenommen wird, sondern kommentarlos als „rechts“, respektive „rechtsextrem“ oder „neoliberal“ abgetan wird. Und das ist billig.

Ich möchte bei aller Kritik an der Linken in diesem Post doch auch noch ergänzen, dass wir der Linken, der Sozialdemokratie vieles zu verdanken haben! In einem radikalliberalen System wie im 19. Jahrhundert war der Ruf nach mehr staatlich organisierter sozialer Gerechtigkeit richtig und wichtig. Eher weniger aber in einem System mit Staatsquote von um die 50 Prozent, Tendenz rasch steigend. Ambiguitätsdingsbums. Auch hier mögen manche sozialdemokratische Forderung weiter ihre Berechtigung haben, gar keine Frage. Die Obdachlosigkeit in den USA, ein absoluter Skandal. Und kaum mit liberalen Mitteln zu lösen.

Soll der Wohlstand aber langfristig einigermassen gehalten werden (auch für die Armen!), benötigt es vor allem liberale Reformen. Und an diesem Punkt stehen viele Länder Europas, die überschuldet sind oder in einer bald kafkaesken Bürokratisierung stecken. Die Schweiz steht noch relativ gut da. Noch.

Neoliberalismus, also der „neue“ Liberalismus entwickelte sich in Abgrenzung zu einem radikalen Liberalismus wie er im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts vielerorts geherrscht hatte. Die Grundidee war, dass der Liberalismus staatliche Regulierungen benötigt. So wenige wie möglich, aber der Staat sollte doch mehr Kompetenzen haben als im klassischen Liberalismus vorgesehen: Schutz des Landes, Schutz des Privateigentums und ein eingeschränkter Service Public (Infrastruktur, Schulen etc.). Neoliberalismus zeichnet sich also gerade dadurch aus, dass es sich NICHT um einen radikalen Liberalismus handelt. In einem Neoliberalismus ist auch ein gemässigter Sozialstaat möglich und damit ist diese Position nicht weit davon entfernt von einer gemässigt sozialdemokratischen Haltung.

Neoliberalismus ist heute aber ein Schimpfwort, insbesondere in linken Kreisen. Sinnentleert wie so viele andere politische Kampfbegriffe. Inhalt ist unwichtig. Fordert jemand einen Rückbau des Staates bei einer Staatsquote von rund 50 Prozent? Ist ein Neoliberaler (gemeint: Radikalliberaler)! Und damit erübrigt sich jede Diskussion. Was einfacher ist als Argumente vorbringen zu müssen. He, der ist neoliberal. Heisst, der ist böse. Heisst, mit dem reden wir nicht mehr. Fast so schlimm wie ein Rechter. Oder sogar noch schlimmer! Gut böse. Funktioniert immer wieder.

Chile ist für mich deshalb ein so faszinierendes Fallbeispiel, weil es der einzige Staat weltweit ist, der von einem im Aufbau befindlichen Sozialismus unter Allende innert weniger Jahre zu einem radikalen Liberalismus geschwenkt ist. Pinochet (vgl. Tag 10) war sicher konservativ, katholisch, insbesondere aber antimarxistisch, respektive antikommunistisch (weshalb er auch gerne als Faschist bezeichnet wird, was wohl nicht wirklich zutreffend ist). Und Pinochet hatte Ende der 70er Jahre in Chile ziemlich radikalliberale Reformen eingeführt, erdacht von den sogenannten „Chicago Boys“. Einer Gruppe von Ökonomen, die in Chicago (liberale) Wirtschaft studiert hatten.

Nach ersten wirtschaftlichen Erfolgen (wohl auch erklärbar durch den Rückbau des unter Allende eingeführten Sozialismus) kam es um das Jahr 1982 herum zu einer schweren Wirtschaftskrise. Manche der Reformen waren vermutlich zu extrem gewesen. Ich kenne aber die Hintergründe zu wenig. Sicher ist, dass manche Reformen wieder zurückgenommen werden mussten. Insgesamt aber scheint sich Chile vor allem im Vergleich zu den Nachbarländern wirtschaftlich sehr gut geschlagen zu haben. Es war eine schreckliche Diktatur unter Pinochet, aber die Wirtschaftspolitik war im Vergleich zu sozialistischen Experimenten erstaunlich erfolgreich gewesen. Was sich bis heute zeigt und von vielen Chilenen (vgl. Post zu Tag 10) wohl auch geteilt wird. Nein, es ist kein Vorzeigeland, es hat viele Probleme, es ist kein Ideal, ich bin aber immer wieder positiv überrascht. Es scheint ein wohlhabendes Land zu sein, Armut und Ungleichheit bleiben aber definitiv ein grosses Problem wie auch die Proteste von vor rund 5 Jahren gezeigt haben.

Nach der (demokratischen!) Abwahl von Pinochet im Jahr 1990, wo er „nur“ 44 Prozent der Stimmen erhielt, folgten viele eher gemässigte Regierungen. Mal eher sozialdemokratisch, mal eher liberal oder rechts. So wie es eigentlich sein sollte. Ambiguitätsdingsbums. Die Diktatur wurde erstaunlich wenig aufbereitet, das Land erwies sich aber als stabile Demokratie mit robustem Wirtschaftswachstum. Und dies in einem Lateinamerika, wo eine funktionierende Demokratie eher die Ausnahme war. Wo Venezuela und Argentinien, die beide einst zu den wohlhabendsten Staaten der Welt (!) gehörten zu Armenhäusern mutierten. Venezuela offensichtlich durch sozialistische Misswirtschaft, Argentinien mit mehreren Staatsbankrotten und Hyperinflation. Und mit meist dezidiert linken Regierungen, die den Staat aufblähten und Klientelpolitik betrieben. Aber schuld an der Misere waren natürlich die USA. Oder so.

Ich habe vor ein paar Tagen das von bro vorgeschlagene Buch von Julia Friedrichs fertiggelesen. „Crazy Rich: Die geheime Welt der Superreichen“. Faszinierendes Buch. Sie beschreibt die Welt der Superreichen sehr eindrücklich. Der perverse Luxus. Die Dekadenz. Und es ist so unfassbar naheliegend: wir nehmen denen doch einfach mehr weg und geben es den Armen. Machen wir schon. Könnte man vielleicht auch noch verstärken. Ist nicht ganz so einfach. Ich sehe diese Probleme durchaus. Das ist unfassbar ungerecht. Und ja, die werden immer reicher, weil ihre Aktien, Immobilien etc. im Wert immer mehr steigen, die Dividenden bei grossen Investitionen viel hergeben. Das Geld ist aber zugleich zu einem grossen Teil investiert und kann (im wirklich grossen Rahmen) nicht einfach aus der Wirtschaft herausgelöst werden ohne Schaden anzurichten. Die Problematik ist vermutlich relativ komplex. Ambiguitätsdingsbums. Es braucht Umverteilung von reich zu arm. Unbedingt. Es braucht aber auch reiche Leute, die risikoreiche Investitionen tätigen. Menschen, die Unternehmen gründen. Private sind dabei meist erfolgreicher als der Staat. Aber welche Reichen? Elon Musk? Mit zum Teil doch eher seltsamen politischen Positionen? Schwierig. Einfache Lösungen funktionieren wohl nicht, aber denen noch etwas mehr abzuzwacken, ich verstehe den Reiz! Unbedingt.

Noch ein letzter Gedanke zum Abschluss. Der Sozialismus musste seine Leute einsperren (Berliner Mauer…), damit sie nicht einfach abhauen. Aus Venezuela sind inzwischen rund ein Viertel der Menschen geflohen. Ohne Krieg, nur aus wirtschaftlicher Not. Die USA im 19. Jahrhundert waren sicherlich ziemlich radikal liberal. Wilder Westen. Doch auch die Ostküste. Wo täglich Hunderte oder gar Tausende Menschen ankamen in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Was viele wohl nicht fanden. Das Elend in radikalliberalen Gebieten ist gross. Weshalb es auch richtig ist das Elend in einem radikalliberalen System mit zunehmenden staatlichen Regulierungen zu verbessern. Ambiguitätsdingsbums. In radikalliberalen Gebieten gab es aber meines Wissens nie eine Diktatur (auch Pinochet ist kein ideales Beispiel) und die Lage verbesserte sich auch durch den sozialdemokratischen Kampf der Arbeiter in Verbindung mit der dadurch erzwungenen Erhöhung der Produktivität. Ein Prozess, der quasi automatisch funktioniert in dem Sinne, dass sich unter bestimmten Bedingungen, Arbeiter zu organisieren beginnen. Radikalliberale Systeme sind instabil und tendieren dazu weniger liberal zu werden. Auch der Sozialismus ist instabil. Da der Sozialismus aber die Diktatur benötigt (man kann ja nicht nach 4 Jahren sagen, oh, die Opposition hat gewonnen, na gut, dann verzichten wir halt auf den Aufbau des Sozialismus…) und ohne mir bekannte Ausnahme immer diktatorisch gewesen ist, wird die Lage immer schlimmer, bis es irgendwann „explodiert“ oder der Staat bankrott ist. Komplett am Boden wie nach einem verheerenden Krieg – einfach ohne Krieg. Nur durch staatliche Misswirtschaft. Und die Folgen davon sind unter Umständen noch Jahrzehnte später zu spüren. Der Sozialismus (nicht Sozialdemokratie wie z.B. in Skandinavien) ist nicht nur kurzfristig destruktiv, sondern langfristig und destabilisiert damit auch andere Staaten. Beispiel Venezuela. Illegale Migration. Führte womöglich (nebst vielem anderen!) zu Trump. Führt aber auch in den Nachbarländern wie Kolumbien, Ecuador und sogar dem ziemlich weit entfernten Chile zu zunehmendem Fremdenhass.

So, Herr Chilly. Soviel zu ihrer Frage 🙂 (Mr Chilly: „Eine Frage stellt sich mir im Moment. Sie sagen hier, dass Chiles Sozialismus die Nachbarländer destabilisiert habe. Wie meinen Sie das?“

Zum Beitragsbild: es zeigt eine junge Frau mit zwei Jungs, die „Schleckstengel“ verkauft. Als ich vorbeigehe sind sie grad asiatische Nudeln aus einer Aluschale am Essen. Die Kinder haben ein paar Spielzeuge. Immerhin. Es ist solches Elend, das mich immer wieder berührt. Die Frage ist, was tut man dagegen. Almosen geben? Jobs generieren? Ich könnte mir gut vorstellen, dass die Frau aus Venezuela stammt. Ihr „gracias“ als ich ihr einen Schleckstengel abkaufe tönt auf jeden Fall anders als ich es bei Chilenen gewohnt bin. Aber: es ist ein Bild wie es auch ideal zu einem radikalen Liberalismus passen würde. Ich sag nur: Ambiguitätsdingsbums.

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6 Gedanken zu „Ambiguitätsdingsbums“

  1. Gut, ich sehe, Du spielst mir einen Steilpass zu.
    Nehme ich gerne an.

    Die Geschichte von Chile hat mich sehr interessiert, vor allem in der Zeit als ich Südamerika mit meiner Liebsten 1999 bereiste.
    Meine Sympathie: Natürlich bei Allende, und bei seiner Nichte 2. Grades – Isabel schildert das Chile in der Zeit des Umsturzes dramatisch und emotional. Und da war ja noch Pablo Neruda – Poesie pur. Eines seiner Gedichte hat es sogar auf unsere Hochzeitseinladung und Dekoration geschafft.
    Aber ja, Allendes Reformen waren radikal, massenhaft Enteignungen – wenn ich mich recht erinnere. Sozialismus in dem Sinne ist grandios gescheitert – ich glaube das möchte heute niemand ernsthaft mehr. (Selbst die eher radikalen Juso wollen in der „Zukunftsinititiative“ zwar völlig übertriebene 50 % ab 50 Millionen (!?!) besteuern – was für eine unausgegorene und naive Idee).

    Zum Buch von Friedrichs:
    „Und es ist so unfassbar naheliegend: wir nehmen denen doch einfach mehr weg und geben es den Armen. Machen wir schon. “ schreibst Du leicht sarkastisch.
    Machen wir eben nicht. Es kommt relativ deutlich im Buch zum Ausdruck, dass ein grosser Teil der Überreichen ihre Steuersätze so optimieren, dass ihr prozentualer Steuersatz massiv unter dem eines normalen mittelständigen Bürgers liegt. Das Unternehmer und Innovations Narrativ zieht in diesem Fall nicht.
    Da finde ich gibt es also noch deutlich Luft nach oben. Die Schwierigkeit liegt tatsächlich im „Wie dieses Ziel erreichen“. Eine spannende Stimme einer Reichen ist hier Marlene Engelhorn „Tax me now“.

    Bezüglich Staatsquote: Ja, 50 % ist viel. Wobei man bei solchen Zahlen ja dann schon immer genau hinschauen muss, ist Gesundheitsversorgung, Sicherheit, Soziales, Bildung, Stromversorgung, Abfallwesen, Verkehr, Kultur, Pensionsgelder etc. dabei. Wenn das alles funktioniert, ist es ein guter Deal, finde ich.
    Ja, ich finde, das wird viel zu wenig gesehen, zumindest aus privilegierter Schweizer Sicht. Wir erhalten schon extrem viel für unser Steuergeld – diese Position lese und höre ich nirgends, nur überall feilschen um ein Steuerprozent mehr oder weniger und sehr viel Energie wird in Steueroptimierung gesteckt. Ist dies nicht eigenartig – oder bin ich es?
    Ja ich bekenne mich: Ich zahle gerne steuern für einen Staat mit einer tollen Infrastruktur und einem recht guten Sozialwesen.

    Schwierig ist, da gebe ich Dir recht, dass die Zahlen (Staatsquoten) seit langem und vorallem konstant steigen. Dasselbe bei der Staatsverschuldung in den meisten Ländern (übrigens völlig egal, welche politischen Lager an der Macht sind, man genehmige sich z.B. die Verschuldungszunahmen unter demokratischen bzw. republikanischen Regierungen in den USA). Und das deutet doch darauf hin, dass es irgendwann so nicht weitergeht. Ich bin nicht gut in Mathe, aber diese Rechnung wird auf lange Sicht nicht aufgehen.
    Weil es aber gleichzeitig so einen massiven Überreichtum gibt: am Geld alleine liegt es nicht, halt doch schon eher an der Verteilung.

    Du sprichst noch Migration an.
    Ein weiterer Buchtipp: „Hein de Haas: Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich dahinter steckt“.
    Die FAZ schreibt: „Indem der Autor bekannte Migrationsthesen auseinandernimmt und sie als Mythos entlarven versucht, stösst er wohl Linksliberale und Konservative gleichermassen vor den Kopf. Jeder Leser, gleich welcher politischen Richtung, wird die eigenen Vorstellungen von Migration während der Lektüre hinterfragen.“
    Warum sind Verschärfungen fast immer kontraproduktiv (z.B.Brexit?). Warum funktionieren Mauern nicht? Warum verursacht Entwicklungshilfe mehr Migration? Wie wird das Thema „Klimaflüchtlinge“ instrumentalisiert? Und wie bewegen sich die Migrationszahlen im Vergleich der letzten Jahrzehnte?
    Viel Ambiguitätszeugs also.

    Guten Rutsch ins neue Jahr und liebe Grüsse.

  2. Ja, das ist wohl ein Problem dabei: charismatische Führungspersönlichkeiten mit wohlklingenden Ideen, die dann nicht funktionieren, respektive katastrophale Folgen haben. Ich möchte auch keineswegs für Pinochet argumentieren. Gar nicht charismatisch und politisch eine Katastrophe. Wirtschaftlich aber anscheinend erstaunlich erfolgreich. Das finde ich spannend daran.

    Ob allerdings niemand mehr den Sozialismus anstrebt, wage ich zu bezweifeln. Bei der SP steht die Überwindung des Kapitalismus meines Wissens bis heute im Parteiprogramm und planwirtschaftliche Vorgehensweisen sind definitiv nicht verschwunden, sondern gerade auch in Nachbarländern der Schweiz eher am Zunehmen. Aber ich hoffe natürlich, dass du recht hast…

    Tax the real rich ist wohl tatsächlich nicht so einfach. Friedrichs schreibt zwar auch, dass das die Politik in Deutschland gar nicht interessiere, ich gehe aber davon aus, dass es vor allem oftmals kontraproduktiv ist. Schwieriges Thema. In der Schweiz zahlen die reichsten 10 Prozent (Einkommen) deutlich über 50 Prozent aller Steuern, wenn die Grafik aus dem Tages Anzeiger stimmt. Sind halt schon auch grosse Beträge – und da lohnt sich ein Entgegenkommen für den Staat. Wichtig scheint mir hier vor allem: würde es gelingen, dürfte damit nicht der Staat weiter aufgebläht werden, sondern müssten Steuern für den Mittelstand oder so gesenkt werden. Und die Frage stellt sich, ob bei einem „tax the real rich“ diese ihre Konsumausgaben senken – oder ihre Investitionen zurücknehmen würden. Zweiteres könnte eben wiederum kontraproduktiv sein. Könnte. Schwierig. Wirklich erfolgreiche Beispiele sind mir nicht bekannt – und meist ist es sehr schwierig die Zahlen zu deuten und einzuordnen.

    Nächster Punkt. Ja, in der Schweiz macht der Staat keinen schlechten Job. Meine Kritik richtet sich eher an die Nachbarländer, wobei ich eben in der Schweiz durchaus problematische Tendenzen sehe. Ich finde auch, dass ich eher zu wenig Steuern zahle, wobei das in der Schweiz auch etwas verschleiert wird, da Krankenkasse und diverse Gebühren in anderen Staaten zu den Steuern gezählt werden. In vielen Ländern (und sicher auch in der Schweiz für viele Leute) sind die Steuern aber schon erdrückend und da kann man natürlich versuchen the real rich zu taxen – oder sparsam mit dem Geld umzugehen.

    Auch wenn in der Staatsquote Pensionen und Gesundheitswesen etc. enthalten sind – bei 50 Prozent stellt sich die Frage wie das finanziert wird. Zumindest nach klassisch liberaler Vorstellung sollen Private Profit erwirtschaften und der Staat in den Feldern, die sich auf diese Weise kaum rentabel führen lassen einspringen. Es geht vor allem um Armee, Rechtsstaat und Service Public. Bezahlt durch die Besteuerung des durch die Unternehmen erarbeiteten Mehrwerts (dazu gehören auch Löhne etc.). Wird der Staat immer grösser und übernimmt immer mehr Aufgaben, bleibt dieser Vorstellung gemäss immer weniger geschaffener privater Mehrwert übrig und damit zerbröselt irgendwann das finanzielle Fundament des Staates. Und da beginnt dann wohl irgendwo der Sozialismus.

    So ist die AHV zwar sozial ausgerichtet, da Reiche verhältnismässig viel mehr einzahlen als erhalten, aber das Konzept steht langfristig auf wackeligen Füssen. Immer weniger Junge sollen immer mehr Alten die Rente bezahlen, das geht irgendwann nicht mehr auf. In dieser Situation eine 13. AHV Rente auch für die Reichsten zu gewähren, ist in meinen Augen mehr als kurzsichtig. Richtig absurd wird es aber, wenn diese 13. Rente durch die Mehrwertsteuer finanziert werden soll – die vor allem Junge und Arme betrifft. Viel unsozialer geht nicht mehr und genau das meinte ich in einem früheren Post mit den „sozialen Nettigkeiten“. Renten zu erhöhen ist immer leicht, sie wieder zu senken (vgl. Frankreich!) fast unmöglich.

    Und so beginnt das System immer mehr zu wackeln, der Wohlstand stagniert, die Wirtschaft schrumpft und es gibt kaum Einsicht, dass das daran liegen könnte, dass wir über unsere Verhältnisse leben, wesentlich durch einen ausufernden Staat. Oder so.

    Das Buch von de Haas habe ich mal angeschaut, sieht vielversprechend aus. Sehr neutral und umsichtig, differenziert und fundiert. Vielleicht bin ich da auch mit den destabilisierenden Tendenzen Venezuelas etwas vorschnell gewesen. Das Gefühl der zunehmenden Unsicherheit und Kriminalität ist auf jeden Fall virulent in Südamerika und hat vermutlich stark mit der Armutsmigration aus Venezuela und der Karibik zu tun. Inwiefern das aber auf dem populistischen Schüren von Ängsten basiert und inwiefern auf realen Tatsachen, ist für mich schwierig einzuschätzen. Mir wurde jedenfalls bislang weiterhin nichts geklaut, ich gehe jetzt aber doch mal runter, um zu schauen, ob das Brompton noch da ist. Ich wurde mehrfach gewarnt, es einfach an der Strasse an einen Pfosten anzuschliessen. Ich habe irgendwie Gottvertrauen – und ein gutes Schloss. Und das Gefühl, dass in Städten wie dieser Veloklau zu wenig lukrativ ist, als dass Typen mit Bolzenschneidern durch die Strassen fahren, um Velos zu klauen. Und ich habe sogar einen Alarm dran. Sollte da jemand zu werkeln beginnen beginnts zu heulen – und das käme wohl so unerwartet, dass es hoffentlich abschreckend wirken würde. Aber bislang war das noch nicht mal nötig. Noch. Muss mich auf den Weg machen.

  3. Ganz unwidersprochen kann ich deine Entgegnung jetzt doch nicht lassen.
    Probiere mich kurz zu halten.

    Wir sprachen vom Überreichtum, sprich von Leuten mit dutzenden Millionen – da musst Du keine Angst haben, dass der Konsum plötzlich einbricht. Die Millionen liegen auf den Konten und den Fonds, meist sicher in irgendwelchen Briefkästen versteckt, und da heizen sie den Konsum auch nicht gerade an.

    Über die AHV haben wir auch schon debatiert.
    Klar, eigentlich eine blöde Idee, in der jetzigen demographischen Situation das ganze noch zu verschärfen.
    Doch die Logik ist eine andere. Bei uns ist die AHV die absolut relevanteste Umverteilungsmaschine von Reich zu Arm (in anderen Ländern ist auch die Krankenkasse einkommensabhängig finanziert) und dies mit sehr geringer Bürokratie, also sehr effizient. All die Bedarfsgerechten sozialen Systeme wären zwar grundsätzlich schon besser, haben aber den riesigen Nachteil, dass sie die Bürokratie massiv anheizen mit all ihren Folgen von Bullshit-Jobs und Kampf um Zulassungsberechtigung usw..

    „Viel unsozialer geht nicht“, schreibst Du betreffend Finanzierung über MwSt. Das sehe ich anders.
    Finanzierung über MwSt ist zwar tatsächlich nicht ohne, doch auch hier: Bei Konsumausgaben einer armen Person von vielleicht Fr. 1’000.– monatlich fallen höchstens einige Rappen/wenige Franken höhere Kosten an. Lebensnotwendige Dinge wie Bücher, Zeitschriften, Dünger(!?) und Lebensmittel werden ja sogar zu einem reduzierten Satz versteuert.
    Bei hohen Konsumausgaben hingegen läppert sich eine Erhöhung dann schon zusammen. Die Armen finanzieren also schon einen kleinen Teil der 13. Monats-AHV-Rente, sehr viel stärker aber Mittelstand und Reiche.
    Einzig für die Jungen ist es mit Sicherheit ein schlechter Deal.
    Da kommt ein neues Problem auf die Gesellschaft zu, nämlich dass die alten Säcke und Säckinnen mit ihren Interessen die Jungen locker überstimmen.

  4. Ach, ich will die Reichen doch gar nicht verteidigen. Ambiguitätsdingsbums. Mal andere Position einnehmen. Wobei: ich zitiere die NZZ von heute (6. Januar): „Zum Zweiten: Studien zeigen, dass für international mobile Innovatoren ausgerechnet der Spitzensatz der Einkommenssteuer eine wichtige Komponente der Standortwahl ist, wichtiger noch als die Unternehmenssteuer. Dies ist auf den ersten Blick überraschend. Die meisten Menschen, die ein innovatives Startup gründen, starten mit geringen Mitteln. Doch wer grosse Risiken eingeht und während Jahren fast gratis an einer Vision arbeitet, will die Früchte des späteren Erfolgs geniessen können. Kein Wunder, wird der Spitzensteuersatz auch Erfolgssteuer genannt.“

    Mein Punkt ist letztlich: ist alles viel komplexer als einfach Reiche besteuern und am Schluss bleibt mehr übrig. Weniger Startups bedeutet weniger Innovation bedeutet unter Umständen dass am Schluss auch Arme weniger haben. Unter Umständen. Vermutlich ja dann doch nicht. Weil eben: komplex.

    Bei der AHV muss ich aber klar widersprechen. Diese ist dann eine Umverteilungsmaschine, wenn sie über Lohnprozente finanziert wird. Vereinfacht gesagt: wer 100’000 verdient, zahlt 6’400, wer 10’000 verdient, zahlt 640. Diejenige Person, die zehnmal mehr einzahlt kriegt aber nur rund den doppelten Betrag an AHV (Maximalsatz, zurzeit rund 2’500 vs Minimalrente zurzeit gut 1’200). Sinnvolles System. Wenn das nun aber über die Mehrwertsteuer finanziert wird, ist dieser Effekt komplett (!!!) dahin.

    Denn nun bezahlen alle, die konsumieren, wobei die Mehrwertsteuer gerade weil es kleine Beträge sind vor allem Junge und Arme belastet. Oder den eh schon überlasteten Mittelstand, aber eben nicht die Reichen. Erhalten tun die einbezahlten Gelder aber ausschliesslich Alte, egal ob reich oder arm! Nicht Reiche zahlen viel mehr und erhalten nur wenig mehr, sondern alle zahlen mehr, damit die Alten mehr erhalten. Wo die AHV Finanzierung eh nicht mehr langfristig gesichert ist und die Jungen in Zukunft wohl mehr werden zahlen müssen und/oder weniger erhalten werden, müssen sie jetzt auch noch eine 13. Rente finanzieren. Mittelfinger. Ausgestreckt.

    Und es ist sogar noch schlimmer. Jene, die den Maximalsatz erhalten, erhalten diesen einmal zusätzlich als 13. Lohn, also plus rund 2’500 pro Jahr. Jene, die die Minimalrente erhalten plus gut 1’200. Profitieren tun also vor allem die Reichen, wobei auch hier wohl diejenigen das Geld am nötigsten haben, die nur gut 1’200 erhalten. Viele, die nun ein Geschenk von 2’500 erhalten – werden das wohl am Ende einfach weitervererben. Profitieren tun dann die Jungen der reichen Alten. Auch nicht den Effekt, den man eigentlich sehen möchte…

    Jung und arm zahlen also (respektive alle, aber die schmerzt es am meisten), damit die reichen Alten am meisten profitieren. Das ist in meinen Augen hochgradig unsozial und ein ausgestreckter Mittelfinger an uns Junge! Weshalb ich wohl so heftig reagiere!

    Gut. Die Reichen konsumieren mehr, zahlen mehr, kriegen dann aber nur die Maximalrente. Ein bisschen bleibt der Effekt ev. erhalten. Aber höchstens noch als Schatten der Ursprungsidee!

  5. Ich glaube, Du liest mir nicht richtig zu.
    Gegen Unternehmertum habe ich nichts, auch nichts gegen Leistungsgesellschaft. Nichts gegen „Früchte geniessen, von Innovatoren, die ein Startup mit wenigen Mitteln gründen“. Auch nichts dagegen, den Staat effizient und effektiv zu gestalten.
    Sehr wohl aber gegen den Überreichtum (Um das nochmals zu sagen: Überreiche sind nicht einfache Millionäre oder Unternehmer, die ihr Geld in ihrem Unternehmen investiert haben!). Ich bin gegen absurde Boni-Praktiken (was nichts mit Leistungsgesellschaft zu tun hat), gegen Polit-Lobyismus der einfach ein anderes Gewicht hat, wenn er von Milliardären kommt als von einem Sozialarbeiter oder Berufsschullehrer, der die SP wählt und Birdlife jedes Jahr Fr. 20.– spendet.
    Auch demokratisch gesehen, ist diese Verbindung von Multimilliardären mit Ihren Druck- und Lobbymöglichkeiten höchst bedenklich und ja, das macht mir Sorgen. Ich glaube sogar, dass dieses Problem viel grösser ist, als es scheint, kann man mit finanziellen Mitteln doch auch vieles verschleiern.
    Aber vielleicht müssen wir das mal bei einem Bier ausdiskutieren.

    Bei der 13. AHV sind wir uns wohl einig, dass es sicher nicht die beste Idee ist. Von der Wirkung bzw. Nebenwirkung sehe ich das zwar schon etwas anders als Du.
    Wobei, die Wirkung wäre in der Vorstellung der Initianten sicher grösser gewesen, aber dann gibt es halt die Realpolitik. Die Initianten wollen ja die Finanzierung (insgeheim) über Lohnprozente aber genau das verteuert den Werkplatz Schweiz, hat also keine Chance, deshalb die MwSt, was die Ziele tatsächlich weiter verwässert. Vielleicht bleibt wirklich nur noch „ein Schatten der Ursprungsidee“ (ich könnte sagen: immerhin) – dieser Aushandlungsprozess heisst direkte Demokratie.
    Klar ist – wie schon geschrieben: die Jungen sind die Verlierer, die Alten die Gewinner.

    Mit meinen Jungs haben wir schon diskutiert, dass es Zeit für eine neue Initiative wäre:
    12 – 18 Jährige haben 1 Stimme, 18 – 65 Jährige 2 Stimmen, ab 65 Jährige wieder nur 1 Stimme. Könnte man natürlich varieren, radikaler oder weniger radikal gestalten. Das wäre doch eine richtige Zukunfts-Initiative? Unterschreibst Du?

  6. OK, das war etwas gar polemisch, da geb ich dir recht 🙂 Aber Ambiguitätsdingsbums. Verschiedene Sichtweisen. Es scheint eindeutig, aber wenn man ein bisschen vertieft, merkt man plötzlich, dass da noch ganz viele Aspekte dazukommen. Und das klar und eindeutig erscheinende Dings eigentlich ganz Unterschiedliches beinhaltet. Mehrdeutig ist. Das war doch das Thema. Und in der Tat: Überreiche haben zu viel Macht, sehe ich als Problem, aber es haben meines Wissens viel mehr Milliardäre für Harris gespendet. Und wenn ich mir die Politik in Europa anschaue wird diese offensichtlich nicht allzu stark geprägt durch Überreiche. Auch wenn es hierfür zahlreiche linke Verschwörungserzählungen gibt – sie lassen sich mit der Realität nur selten in Übereinstimmung bringen. Dann wieder Trump und Musk. Eben. Nicht so eindeutig. Mehrdeutig. Aber ist ein Problem, keine Frage. Dass diese superreichen Säcke zu viel Kohle haben und Kohle die Tendenz hat, sich zu vermehren, wenn nur genügend auf einem Haufen liegt. Lösung all unserer Energieprobleme, wenn Kohle nicht eine so unsägliche CO2 Bilanz hätte…

    Bei der AHV bin ich aber weiter nicht einverstanden. Die Initianten hätten eben die Finanzierung zwingend in die Initiative reinschreiben müssen. Das war ja der grosse Kritikpunkt. Haben sie nicht gemacht, weils sonst wohl nicht angenommen worden wäre. Und im Nachhinein dann einfach zu sagen, oh, wir haben das aber anders gewollt ist billig. Jetzt wird extrem viel Geld an Leute verschenkt, die es nicht nötig haben. Nicht bezahlt durch die Reichen, sondern durch die Allgemeinheit. Heisst: die Alten (nicht explizit die Armen!) profitieren, bezahlen tuns alle (auch die Armen!). Das ist genau die Dynamik, die in vielen Staaten Europas (z.B. Frankreich und Griechenland) zur Katastrophe geführt hat und führt. Macron wollte Renten reformieren (kürzen, da unfinanzierbar) – der Widerstand war enorm. Frankreich ist heute faktisch beinahe pleite – und beinahe unreformierbar. Hat sich unter anderem zu viele „soziale Nettigkeiten“ geleistet, die sich (fast) nicht mehr rückgängig machen lassen. Das wird uns noch um die Ohren fliegen, Griechenland war da nur ein laues Lüftchen dagegen.

    In der Schweiz lief es bis anhin besser – aber in den letzten Jahren hat leider eine Dynamik begonnen, die in eine ähnliche Richtung geht. Die 13. Rente ist hier symptomatisch – und wie du ja auch schreibst, die Politik hat Mehrwertsteuer statt Lohnprozente gewählt, weil sie hier weniger Schaden befürchtet hat. Das sollte doch zu denken geben. Vielleicht ist ja auch die lohnfinanzierte AHV nicht ganz so unproblematisch wie gerne angenommen? Aber es gibt natürlich eine einfache Lösung: das Geld bei den Überreichen absahnen! Bloss gibt es meines Wissens bis heute keine wirklich funktionierenden Wege, um das zu tun. In meinen Augen wäre das aber der notwendige erste Schritt, Einnahmen erhöhen, bevor man mehr ausgibt. Oder Ausgaben woanders kürzen. Aber einfach mal allen Alten mehr Geld geben und sich nachher überlegen, woher dieses kommen soll ist bestimmt der falsche Weg. Aber vermutlich ist das ja dann doch nicht – derart eindeutig.

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