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Noch 13 Tage Truco

In Buenos Aires gibt es wirklich wunderbare Parks. Zum Beispiel einen Botanischen Garten ohne Blumen. Aber mit vielen alten Bäumen, die Schatten spenden. Oder einen Zoo. Ohne eingesperrte Tiere. Gut. Giraffen. Aber der Rest der Tiere, zumindest jener, die ich gefunden habe, laufen frei, ausserhalb von Gehegen rum. Grosse Eidechsen, diese seltsamen Nagetiere, Papageien, Pfaue. Die Tapire aber finde ich beim besten Willen nicht. Oder die Affen. Und so hat es auch einen Rosengarten. Wunderschön, aber ohne Rosenverkäufer. Dafür mit einem Garten voller Rosen. Einen Deutschen Garten. Einen Einwanderer aus Armenien Park. Und und und. Wirklich cool. Und so gefällt mir Buenos Aires vielleicht sogar noch besser als Santiago. Schwierig zu beschreiben, warum. Was mich aber weiterhin verwirrt, ist der wahrgenommene Zustand des Landes. Ich finde die Krise nicht.

Wenn man sich keine lebenden Tiere leisten kann – dann tuns auch Roboter. Diese Beispiel bewegen sich tatsächlich!

Ja, heute habe ich ein paar weitere Obdachlose gesehen, im Zentrum. Wohl auch einige Menschen, die auf Drogen auf dem Trottoir lagen. Aber wirklich nur Vereinzelte, im Vergleich zu den USA quasi nicht der Rede wert – und eben auch im Vergleich zu Europa. Und ansonsten habe ich weiterhin keine Krisensignale wahrgenommen. Nicht mal die Inflation ist wirklich sichtbar. Ich hätte überall entweder mit Bleistift notierte Preise erwartet oder vielleicht sogar elektronische Schilder, da die Preise so oft wechseln. Nada. Höchstens seltsame Preise hat es. Heute Schweizer Schokolade, die Tafel für knapp 10 Franken. Dasselbe für Barilla Pasta. Das Kilo Tomaten dann wieder für weniger als einen Franken. Hat vermutlich vor allem mit Import zu tun, der sehr teuer geworden ist.

Was mich auch überrascht, ist, wie defensiv Trinkgelder verlangt werden. Im Restaurant wird erwähnt, dass bei Kartenzahlung der Tip bar bezahlt werden könne. Die Tourguides zu den Ausflügen zu den Pinguinen erwähnen Trinkgeld nicht einmal – und ich lasse es ungewohnterweise sein. Ganz im Unterschied zu den USA oder auch Chile, wo die „Propina“ oftmals direkt draufgeschlagen wird. In den USA wäre 10 Minuten vor Ende der Tour auf das Trinkgeld hingewiesen worden, in den USA wird der Tip beinahe aufgedrängt, in Chile stehen 10 Prozent „Propina“ oftmals bereits auf dem Zettel, es wird dann meist nett gefragt, ob mit oder ohne Tip. In Argentinien kaum ein Thema. Man scheint irgendwie mit den Löhnen durchzukommen. Zumindest wirkt es so auf mich.

Und ja, es gibt Kartonsammler mit grossen Wagen, die – Karton sammeln. Die gab es aber auch schon vor vielen Jahren. Vielleicht ist die Lage auf dem Land schlimmer. Oder in den Villas, den Armenvierteln. Aber gerade hier würde ich wiederum erwarten, dass – bei einer existenziellen Krise – die Menschen erst recht in die reicheren Viertel gehen, um zu betteln, Container zu plündern, nach Arbeit zu suchen. Ich sehe es – wie vor kurzem schon erwähnt im Gegensatz zu Chile – nicht.

Ich lese heute ein Buch zu Argentinien. Mal wieder typisch. Ich bin schon über 2 Wochen hier, beginne aber erst jetzt Bücher zum Land zu lesen. Habe auch heute erst den Reiseführer zu Buenos Aires etwas intensiver studiert. Ich hab ja (noch) Zeit. Und in diesem Buch ging es um die Militärdiktatur (wie es hier dargestellt wird sogar eher noch schlimmer als Pinochet) und unter anderem um „Truco“.

Truco ist ein Spiel, das Argentinier anscheinend lieben. Das Kapitel beginnt wie folgt: „Man tut den Argentiniern wirklich nicht unrecht, wenn man die Behauptung aufstellt, dass sie keine Schweizer sind. Um in der politischen Kultur Argentiniens zu überleben, um in einer Gesellschaft durchzukommen, in der sich die meisten Regeln andauernd ändern und wo für diejenigen, die irgendwo einen Cousin oder Onkel sitzen haben, andere Regeln gelten als für diejenigen ohne Onkel, in so einem Land jedenfalls kommt man als braver, gesetzestreuer Bürger nicht besonders weit. Weit kommt, wer gelernt hat, dass zwei plus zwei zwar durchaus, unter gewissen Umständen, wenn sonst nichts und niemand dagegenspricht, vier ergeben kann – aber auch fünf, neun oder fünfzehn. Weit kommt, kurzum, wer die Regeln des Truco kennt.“ (Thiele, Christian, Gebrauchsanweisung für Argentinien)

In diesem Spiel verschwimmen, so Thiele, Fiktion und Realität. Es geht darum, den Gegner zu täuschen, zu verwirren. Gewinnen tut, wer besser bluffen kann. Aber anders als in Poker in geselliger Runde mit viel Witz, Wort und Wonne.

Vielleicht ist das ein Schlüssel, um Argentinien besser zu verstehen. Die Argentinier sind Krise gewohnt. Man hat sich arrangiert. Zugleich darf man das, was man wahrnimmt nicht mit der Realität verwechseln. Truco. Es gibt einen Zoo. Halt ohne Tiere, aber was solls. Es gibt einen Zoo. Und die Menschen, die ihn besuchen wirken glücklich, kaufen sich ein überteuertes Eis oder auch nicht. Aber keiner fragt nach den Tieren. Der Eintritt ist ja eh gratis. Man macht sich keine Sorgen um die Zukunft. Denn diese wird ja sowieso kommen.

Ich habe in Chile definitiv extrem viel mehr Menschen gesehen, die ums tägliche Überleben kämpfen. Nicht wenige von denen mögen aus Venezuela oder Haiti stammen. Die Not ist aber auf jeden Fall unmittelbar sichtbar. Alles, was ich in Argentinien bislang gesehen ist dazu im Gegensatz viel entspannter. Dafür scheinen die Argentinier mehr zu klagen. Schwierig einzuschätzen.

Ich versuche zu einem Fazit zu kommen. Es sind verschiedene Erklärungen möglich. Vielleicht sind die Argentinier gut im Klagen, im Truco und eigentlich geht es gar nicht so schlecht. Vielleicht bleibt die Armut „zuhause“, ist sie kaum sichtbar, deswegen aber nicht weniger vorhanden. Vielleicht habe ich die Villas, die Armenviertel übersehen. Vielleicht haben die krisengewohnten Argentinier genügend Erfahrung, um ein schwieriges Jahr zu überstehen. Stichwort Familie, Bekannte, die einen dann doch nicht hängen lassen. Und wird die Krise erst dann sichtbar, wenn diese Netze brechen, also womöglich in einem weiteren Jahr, so nicht demnächst der Aufschwung gelingt. Und vielleicht sind die Argentinier auch schlicht Weltmeister im Truco. Weltmeister darin, sich eine eigene Realität zu schaffen, nicht nur andere davon zu überzeugen, dass sie ein gutes Blatt in der Hand halten, sondern auch sich selbst. Unabhängig von der Realität.

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