Anreise und erster Eindruck
Die Colonia Dignidad ist der vielleicht seltsamste Ort an dem ich je gewesen bin. Wie so oft hatte ich nicht wirklich eine Ahnung, was mich erwarten würde. Mich kaum dazu eingelesen. Ich wusste nur, Schlimmes war hier passiert. Der Weg dahin war schwer. Den ersten Versuch musste ich aufgeben, da das Hotel anders als auf Booking angegeben am 31. Dezember den ganzen Tag geschlossen war, eine Info, die erst nach der erfolgreichen Buchung kam. Was sehr unüblich ist. Kompliziert organisiert, es wirkte so als ob nicht allzu viele Gäste den weiten Weg in das abgelegene Tal auf sich nehmen würden.
Ein weiteres Problem bestand darin, dass es keinen öffentlichen Verkehr dahin gibt. Zum Glück hatte ich das Velo, war mir am Anfang aber nicht sicher, ob es etwas zu weit ist. Eigentlich kaum nachvollziehbar nach meinen Touren wenige Monate zuvor. Die Fahrt war zwar anstrengend, aber letztlich keine wirkliche Herausforderung.

Kurz vor der Colonia Dignidad ass ich in einem Foodtruck etwas zu Mittag. Der hatte gute Rezensionen gehabt und gemäss Suchmaschine fast immer geöffnet, was mich doch erstaunt hat. Sehr abgelegen, warum in aller Welt hat es da einen Foodtruck? Die Lösung würde ich erst zwei Tage später erfahren.
Mit gefülltem Magen gings dann zum Eingangstor. Seltsamerweise muss man eine Gebühr bezahlen, die mir aber erlassen worden ist, da ich eine Hotelbuchung vorwies – oder mit dem Velo unterwegs war. Nach einem weiteren guten Kilometer auf Schotterstrasse erreichte ich die Anlage und das Hotel. Und anders als erwartet herrschte Hochbetrieb. Viele Leute am Essen, beim Schwimmbecken, die einfach im Garten herumsassen. Das Hotel war vielleicht nicht gar so gut besucht, aber bildete letztlich eine Einheit mit dem Restaurant. Ein sehr gut geführter Betrieb mit vielen deutschen Spezialitäten (Joghurt, Käse, Wurst etc.), die grösstenteils selbst gemacht werden.

Unklar blieb für mich aber, was das Hotel früher war. In der Zeit, wo hier die schlimmsten Dinge geschehen sind. Welche Funktion das riesige Restaurant mit vorzüglicher Küche hatte. Ich spazierte etwas durch den Weiler, viele Gebäude, ein kleines Schwimmbecken, eine Post, Werkstätten, Gewächshäuser für Blumen, einige Tiere, wenig Landwirtschaft, ein kleiner Flughafen, halt einfach ein Betrieb, der noch ein Hotel mit Restaurant integriert hat. Wäre da nicht die Vergangenheit.

Die Vergangenheit
1956 hatte Paul Schäfer ein Erziehungsheim für Kinder in Deutschland gegründet und letztlich eine Sekte gebildet. 1961 floh er nach Chile, da in Deutschland gegen ihn wegen Missbrauchs von zwei Jungen ermittelt wurde. In Chile hatte er ein abgelegenes Grundstück (das von mir Besuchte) gekauft, wo er sich mit rund 150 Sektenmitgliedern niederliess. Und es Colonia Dignidad, Kolonie Würde taufte. Offiziell sollte dort eine Art urchristliche Gemeinschaft entstehen. Faktisch mussten die Sektenmitglieder aber ohne Lohn Schwerstarbeit verrichten, wobei es auch darum ging, diese Gemeinschaft erst aufzubauen. Das alleine wäre wohl noch kein Skandal gewesen, da die Menschen zumindest offiziell freiwillig in Chile waren. Schon bald wurde aber ein Zaun um das Areal gebaut, der immer raffinierter aufgerüstet wurde und eine Flucht bald schon unmöglich machte. Kameras, Bewegungsmelder, abgerichtete Hunde, die DDR hätte davon lernen können.
Der wahre Skandal aber war die Herrschaft unter Paul Schäfer und einigen Mitstreitern, worüber ich vor Ort ein Buch gelesen hatte. Und ziemlich schockiert war. Noch intensiver waren danach aber die Schilderungen eines „Abtrünnigen“, den ich am Tag meiner Abreise im oben erwähnten Foodtruck ausserhalb der Grenzen der Colonia Dignidad getroffen hatte. Im Folgenden berufe ich mich grösstenteils auf meine hierbei gemachten Notizen.
Treffen mit H.
H. war an einem Tisch gesessen und als er bemerkte, dass ich Deutsch spreche, lud er mich an seinen Tisch an, wo er mit weiteren Herren sass. Und schnell begann er zu erzählen, was er offensichtlich schon oft getan hatte.
Der Foodtruck war Hs Idee gewesen. Er stand noch nicht lange da und sollte auch dem Kampf gegen die Eigentümer der Colonia Dignidad dienen. Paul Schäfer, der Chef der Sekte war 2010 in chilenischer Haft gestorben, der Betrieb vereinfacht gesagt an die Kinder der Täter vererbt worden. Und denen gehört der florierende Betrieb bis heute, inklusive der nicht kleinen Gewinne.
H. findet das extrem ungerecht – und da stimmen ihm seine anwesenden Mitstreiter bei. Was sie erlitten haben, ist das Eine. Dass es aber auch nach dem Tod von Paul Schäfer keine Gerechtigkeit gibt, empfinden sie als schlimmer – oder zumindest fast als schlimmer als das Vergangene. Sie haben sich jahrelang erniedrigen lassen, wurden faktisch gefoltert, missbraucht und ausgenutzt, haben ohne Lohn hart gearbeitet – und kriegen nicht mal jetzt eine Entschädigung. Wobei ich nicht sicher bin, ob das auch damit zusammenhängt, dass H. und seine Kumpanen die Colonia Dignidad letztlich verlassen haben und damit zu Abtrünnigen geworden sind. Dass sie geflohen sind. Denn, so ich es richtig verstanden habe, leben viele der damaligen Missbrauchsopfer auch heute noch als Betagte in der Colonia Dignidad, manchen davon bin ich auch begegnet. Auf Gespräche lassen sie sich in der Regel aber nicht ein.
Missbrauch in der Colonia Dignidad
Doch was war jetzt in der Colonia Dignidad in den 60er, 70er und 80er Jahren geschehen? Kurz gefasst: Sektenmitglieder mussten Fronarbeit leisten, wurden wegen geringster Vergehen zusammengeschlagen, mit Elektroschocks malträtiert, Knaben, möglicherweise auch Mädchen sexuell missbraucht, Kinder entführt und das alles hinter dem Schein einer Vorzeigekolonie. Die unter dem Schutz von General Pinochet, sowie von konservativen deutschen Parteien, insbesondere der CSU und allgemein der Deutschen Botschaft stand. Dies nicht zuletzt, weil sich die Colonia nach aussen als gemeinnützig gab und beispielsweise das einzige Krankenhaus der Region betrieb, wo auch Einheimische kostenlos behandelt wurden. Austausch gab es allerdings (praktisch) keinen.
H. beschreibt härteste Feldarbeit an der Sonne ohne Sonnenschutz als Kind. Vor allem aber den sexuellen Missbrauch. Schäfer nahm (fast) jede Nacht Buben mit sich ins Schlafzimmer, an denen er sich verging. Er hatte die komplette Macht, die Sektenmitglieder taten, was er wollte, waren letztlich gebrochen.
Nebst dem sexuellen Missbrauch von Minderjährigen herrschte ein System der Gewalt. Kleinste „Vergehen“ wurden mit Prügelattacken geahndet, wobei die Auslöser oftmals ebenfalls mit Sexualität zu tun hatten. Buben und Mädchen wurden möglichst strikt getrennt, ein Blick eines Buben in Richtung Mädchenhaus konnte bereits Prügel bedeuten. Spielzeug gab es keines, manchmal wurden aber Bonbons „verschenkt“, sprich in die Menge geworfen. H.s Bruder konnte einmal ein Bonbon einer Freundin schenken, da diese keins ergattern konnte – er wurde halb tot geprügelt. Prügel waren allgemein an der Tagesordnung. Tagsüber härteste Arbeit, am Abend Prügel. Doch auch in der Nacht wurden die pubertierenden Buben überwacht, sie mussten beispielsweise nackt auf dem Rücken liegen und regte sich etwas, gab es Stromstösse.
Die Behandlung mit „Elektroschocks“ war allgemein üblich, oftmals auch in der Hoffnung, Erinnerungen zu löschen. Dies geschah häufig im Krankenhaus, das tatsächlich auch karitativen Zwecken diente. Für die Bewohner der umliegenden Dörfer hatte es grosse Bedeutung. Der leitende Arzt war aber zugleich zuständig für viele Folterungen.
Im Gebäude des Krankenhauses ist heute die Post, weshalb ich es übersehen habe. Im Hotel, wo ich schlief sollen Bewohner der Colonia Dignidad gelebt haben, was irgendwie gruselig ist. Im Restaurant, wo heute viel Betrieb herrscht, gab es früher Massenversammlungen. Hier wurde früher natürlich auch gegessen, aber es ist auch viel geprügelt worden und es ist viel Blut geflossen. Das ist alles sehr abstrakt, weil heute einfach ein ganz normaler Betrieb herrscht. Das Freihaus, das direkt neben dem Restaurant steht war Schäfers Residenz. Wo er gelebt und geschlafen hat. Es diente aber manchmal auch als Ort zum Beten, zum Beispiel, wenn im Folterkeller gerade gefoltert wurde.
Folter durch das Pinochet-Regime in der Colonia Dignidad
Denn die Colonia Dignidad war nicht nur ein Ort, wo Sektenmitglieder missbraucht wurden, sondern der Geheimdienst der Pinochet-Regierung nutzte den Ort auch für Folter. Ich habe Berichte von überlebenden Gefolterten gelesen und konnte mir nicht vorstellen, wie und wo das geschehen sein soll. Der Weiler ist zu kompakt, das müssten doch alle mitkriegen. Und wenn der Folterkeller weiter abgelegen war, dann mussten Fahrzeuge der chilenischen Geheimpolizei erst dahin gelangen.
Sehr erstaunt bin ich deshalb, als mir H. den Standort auf einer Karte zeigt: er lag in einem Keller gleich beim Eingang zum Weiler. Nicht irgendwo abgelegen, sondern mittendrin, darüber soll sich eine Schneiderei befunden haben. Mitgekriegt hätten sie nichts, sagt er. Das kann ich kaum glauben. Zu laut die Schreie, zu offensichtlich, dass da irgendwas abgeht. Das kann durchaus an falscher Erinnerung liegen – er erklärt es damit, dass sie während der Folter-Sessionen im Freihaus gebetet hätten oder laute Musik gespielt wurde. Ich kann es mir irgendwie nicht vorstellen. Tatsache auf jeden Fall ist, dass es diesen Folterkeller gegeben hat.
H. beschreibt wie man heute noch Spuren der Folter sehen könne. Striemen an der Decke und so. Er erwähnt, dass er gestern zwei Spanier mit Velos getroffen habe, erwähnt, dass er gerne eine Tour durchführen würde. Mir und den Spaniern auch die Orte zeigen, wo man nicht einfach hinkommt. Mein Interesse ist geweckt. Denn auch wenn man sich auf dem Gelände der Colonia fast frei bewegen kann, sind mir die Zusammenhänge unklar geblieben. Es ist so unfassbar abstrakt, oberflächlich erinnert nichts an die krasse Vergangenheit. Immerhin hat es ein kleines Museum, das erstaunlich offen über die problematischen Teile der Geschichte der Colonia Dignidad berichtet, aber den Bezug zum Ort herzustellen, bleibt anspruchsvoll.
Und so hake ich später nach. Frage H., ob wir diese Tour machen könnten. Plötzlich hat er keine Zeit mehr und es wirkt auf mich so, als ob das mehr sein Wunsch gewesen wäre. Er steht quasi im Krieg mit den Bewohnern der Colonia und ist dort wohl nicht allzu gern gesehen. Aber vielleicht hatte er auch einfach keine Zeit, gut möglich.
Ich bewundere jedenfalls seinen Kampf und hoffe, dem Foodtruck geschieht nichts. Den heutigen Eigentümern der Colonia, also den Nachfahren der damaligen Täter traue ich vieles zu. Auch wenn es sich heute für Chile um einen Grossbetrieb handelt (die Produkte werden auch ausserhalb verkauft), haben sie sich nie der Vergangenheit gestellt und es auch nie für nötig befunden, über Entschädigungen auch nur zu sprechen. Immerhin arbeiten viele Chilenen auf dem Betrieb, welche womöglich gar nicht so viel wissen über die Vergangenheit. Das ist gemäss H. auch der Grund, warum es so viele Besucher gibt. Das Restaurant ist wirklich gut, die Lage recht idyllisch und über die Vergangenheit wissen wohl die wenigsten Bescheid.
Ende
Beim Schreiben dieses Textes fällt mir auf wie komplex die Thematik letztlich ist. Wie viele wichtige Aspekte ich weggelassen habe, manches habe ich zu kurz angetönt, aber ich hoffe, es ist mir gelungen einen grundsätzlichen Überblick über die Colonia Dignidad zu geben. Wer sich genauer für das Thema interessiert, dem kann ich folgende Materialien empfehlen:
- Es gibt eine Netflix Serie. Colonia Dignidad – es gibt kein Zurück. H. bestätigt mir, was ich auch schon gelesen habe: bis auf die Liebesgeschichte eine sehr akkurate Darstellung der Colonia. Ich habe den Film noch nicht gesehen, weiss gar nicht, ob ich hier Netflix abonnieren kann. Aber werde ich sicher Zuhause nachholen.
- Ein wirklich sehr umfassendes und eindrückliches Buch stammt von F. Paul Heller. Colonia Dignidad: Von der Psychosekte zum Folterlager. Auch empfehlenswert: Jan Stehle. Der Fall Colonia Dignidad: Zum Umgang bundesdeutscher Außenpolitik und Justiz mit Menschenrechtsverletzungen 1961-2020.
Vor wenigen Jahren ist der Film mit Emma Watson und Daniel Brühl im TV gelaufen, habe ihn damals geschaut – sehr eindrücklich und krass.
Erstaunt hat mich an Deinem Bericht, dass die Anlage – ohne richtige Aufarbeitung – weiterbetrieben wird. Hast Du Dich nicht auch gefragt, ob Du mit Deinem Besuch dieses „Regime“ unterstützt?
Du bist also am abschliessen, am Fazit ziehen.
Und da möchten wir es – ich glaube ich schreibe dies im Namen all Deiner treuen Blog Leserinnen und Leser – noch etwas genauer wissen:
Was war:
– Schönster Ort / schrecklichster Ort
– Teuerstes Hotel / günstigste Bleibe
– Weiteste Strecke aus eigener Kraft / mit Fremdeinwirkung
– Anzahl Platten mit dem BROmpton
– Anzahl Blog-Beiträge / Anzahl Tage ohne Blog Einträge
– Längster Blog-Beitrag (in Anzahl Worten)
– Bestes Essen / lausigste Mahlzeit
– Höchstes Trinkgeld
– Liebstes Lied während der Reise
– Grösster Flop
– Lieblingsland / Lieblingsstadt / Lieblingsort
– Wichtigstes Reiseutensil / nutzlosestes Gadget
– Anzahl Übernachtungen in Hotel / Ferienwohnung / Zelt / BnB/ Zug …
– Schönste Begegnung / mühsamstes Treffen
– Exklusiver Geheimtipp (nur für Deine treue Blog – Leserschaft)
Also – wir wollen Zahlen, Einschätzungen, Excel Tabellen, Fazite.
Muss nicht heute sein, heute (8.2.) wird angestossen, eine Kuh auf den Grill geschmissen (Asado), ein Tango geschwungen, ein Mate geschlürft, ein Mendoza-Wein genossen, „No te va gustar“ gehört und gechillt.
P.S.: Übrigens hast Du gewusst: Du hast am gleichen Tag Geburtstag wie Jules Verne – der schaffte die Reise um die Welt in nur 80 Tagen…