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Noch 2 Tage Argentinien

Oder ist es noch 1 Tag? Ankommen werde ich übermorgen, abreisen morgen. Auf jeden Fall ist heute der letzte Abend. Und der zweitletzte Tag. Es regnet, ist unfassbar kalt (20 Grad) und so bleibe ich grösstenteils in der Wohnung, lese, hänge, schlafe, packe, bereite die Verpackung für das Brompton vor. Am Mittag gehe ich eine Pizza essen. Hab ich einfach grad Lust drauf. Ich nehme dann eine offiziell argentinische Pizza – sehr guter, knuspriger Teig, darauf viel Mozzarella und Zwiebeln. Naja. Zusammen mit Cola Null kostet es gut 15 Franken, nicht viel, aber eigentlich auch gar nicht so viel weniger als in der Schweiz.

Am Abend gehe ich im Nieselregen nochmals raus. Viel zu früh für argentinische Verhältnisse. Ich komme an einem schon ordentlich gefüllten Restaurant vorbei, kucke schnell die Rezensionen an, tönt phänomenal. Ein letztes Mal Fleisch mit gemischtem Salat und ein Glas Malbec und natürlich ein Mineralwasser. Der Kellner berät in schlechtem Englisch, macht einen unglaublich guten Job. Am Schluss dreht er mir noch ein Glas „Champagne“ an, ist ja der letzte Abend. Das Fleisch – medium rare wie er es vorgeschlagen hat – ist ausserordentlich. Aber halt auch wieder ein Viertel Rind. Immerhin kein Halbes. Der gemischte Salat kommt mit Sauce (Salatsauce ist nicht die Stärke Südamerikas…), eine Riesenschüssel, frisch, phänomenal. Ich erwähne das alles aus verschiedenen Gründen. Der erste: als die Rechnung kommt bin ich hin und weg: rund 40 Franken. Ich hätte eher mit dem Doppelten gerechnet, der Champagne war geschenkt, das Glas Wein, das ich ohne Preis bestellte nicht überteuert. Und damit komme ich zum zweiten, spannenderen Grund: die Preise in Argentinien sind oftmals kaum nachvollziehbar.

Am Mittag 15 Franken für ein Stück Pizza mit Soda, am Abend 40 Franken für ein fettes nicht fettes Stück Fleisch, einen Salat, ein Glas guten Malbec, ein Mineralwasser, Brot mit Saucen in einem recht edlen Restaurant mit gutem Service. Das erscheint mir aber ganz typisch zu sein. Oftmals gibt es auf der Menukarte sehr günstige Dinge – und dann wird irgendwie noch Schinken dazugefügt und es kostet fast doppelt so viel. Für mich eigentlich ein Zeichen für einen fehlenden Markt. Aber auch dafür, dass noch Marge da ist, dass man nicht auf dem letzten Zacken läuft. Vielleicht ist es aber auch einfach eines der vielen Rätsel dieses Landes.

Ich habe heute noch etwas zum Peronismus gelesen. Gestern war ich im Museum zu Evita Peron. Gut. Sie war charismatisch, sympathisch, hat sicherlich viel Gutes getan, den Armen geholfen. Ihr Gatte hingegen bleibt für mich nach einer oberflächlichen Recherche unfassbar. Peron war Linker, der Verstaatlichungen liebte, eine protektionistische Politik verfolgte. Er war aber auch Rechter mit einem starken Nationalismus. Er war Autokrat, aber kein Diktator, es gab unter ihm einigermassen freie Wahlen. Mussolini war für ihn ein Vorbild, er sah sich aber eben wohl eher als Linken. Er wollte einen dritten Weg gehen zwischen Rechts und Links, was wohl nicht so wirklich geklappt hat.

Auf Peron folgte eine antikommunistische, rechte Militärregierung, die mit unfassbarer Brutalität herrschte. Und über den Falkland/Malvinaskrieg fiel, was insofern spannend ist als überall in Argentinien, oftmals bei einem Ortseingang ein Schild steht mit „Malvinas son Argentinas“. Es gibt viele Denkmäler, ganze Parks, der Verlust der Malvinas scheint identitätsstiftend zu sein. Obwohl die Niederlage die Schreckensherrschaft der Militärs beendete.

Richtig irr wird es aber in den 90er Jahren. Da wird Carlos Menem Präsident. Ein liberaler Peronist. Peronist. Er privatisiert, kürzt Sozialleistungen, verfolgt als Peronist eine liberale, in meinen Augen antiperonistische Politik, verschuldet Argentinien gnadenlos. Für ein paar Jahre können immer mehr Argentinier Ferien in Miami machen und teure deutsche Autos kaufen – bis das System zusammenkracht und 2001 der Staatsbankrott folgt.

In den Nullerjahren wird Argentinien dann vom Ehepaar Kirchner regiert, mal von Nestor, mal von Kristina. Beide selbstverständlich Peronisten. Unter Nestor Kirchner soll sich die Lage normalisiert, stabilisiert haben, Kristina Kirchner wurde später wegen Korruption verurteilt. Auf Kristina Kirchner folgte Mauricio Macri, der das Land mit einer liberalen Politik wieder stärker verschuldete. Auf ihn folgte Alberto Fernandez, dessen Vizepräsidentin – die Peronistin Kristina Kirchner war. Wie auch immer, alles kompliziert, das Land stagnierte auf jeden Fall und so wurde 2023 Javier Milei gewählt, der mit einer extrem liberalen Politik gegen den Peronismus vorging. So ich es richtig verstanden habe. Aber, was in aller Welt ist nun der Peronismus?

Ich weiss es nicht. Es hat wohl viel mit Vetternwirtschaft zu tun. Mit Netzwerken, die abhängig sind von der Parteizugehörigkeit. Mit undurchsichtigen Seilschaften, mit Nepotismus jegliche Art, der die staatlichen Institutionen durchzieht. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Milei jedenfalls hat in radikaler Manier viele staatliche Institutionen zerschlagen, wobei davon als Tourist nichts spürbar ist. Gut möglich, dass das in ein paar Jahren anders aussehen wird – im Guten oder Schlechten. Der Müll wird weiter regelmässig geleert, die Parks sind im Schuss, die Strassen zerfallen nicht – und auch die Armut ist weiterhin nicht übermässig wahrnehmbar.

Womit ich wieder zum Essen zurückkomme. Die Pizza ist gefühlt fast teurer als das Fleisch im Edelrestaurant. Buenos Aires und die Touristenregionen florieren – auch mit argentinischen Touristen. Die Armenküchen findet man wohl abseits in den Vororten von Buenos Aires. Milei hat auch hier Kürzungen vollzogen, bereits gesprochene Güter nicht mehr austeilen lassen, so der Vorwurf. Brutal. Begründung: Nepotismus, es komme eh nicht bei jenen an, die es benötigen, gerade solche Sozialprogramme seien durch Korruption durchzogen. Ein schwieriges Dilemma, weil er wohl nicht nur unrecht hat. Aber arme Menschen deswegen leiden.

Ob wirklich über 50 Prozent der Argentinier arm sind – ich weiss es nicht. Aber Armut ist sicher ein sehr grosses Thema. Sie ist aber erstaunlich wenig spürbar und ich bin doch viel durch Buenos Aires gefahren, auch in Vororte, auch in die Slums. Die sichtbare, wahrnehmbare Armut war in Chile viel grösser – und elende Obdachlosenviertel wie in den USA habe ich gar keine gesehen. Vereinzelte Obdachlose, manchmal auch Paare, nicht wenige „Mülldurchwühler“, aber kaum Bettler.

Und so komme ich zu einem Fazit (ist ja der letzte Abend…): worauf ich hinauswill: Argentinien ist ein absolut faszinierendes Land. Es ist aber auch ein Land, das von aussen irgendwie nicht zu fassen ist. Es macht keinen Sinn. Realität, Wahrnehmung und offensichtliche politische Lage sind für mich nicht vereinbar. Es ist ein Land, das mich ratlos zurücklässt, das mich aber auch sehr fasziniert.

Nachtrag: Ich war gestern shoppen. Habe nichts gekauft. Ich hatte auf Merchandise gehofft. Evita, Peron, Milei. Nix. Ja, der eine andere Messi, Maradona, aber auch die nicht im Übermass. Aber nirgends (!) eine Evita oder ein Milei. Von mir aus auch im Stil Evita ist Göttin, Milei der Teufel. Nichts. Wobei ich hier natürlich Gotteslästerung begangen habe: denn wie viele Murals zeigen gibt es nur einen Gott: den Diego.

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