Viel habe ich gehört von der amerikanischen Gastfreundschaft. Hilfsbereitschaft. Herzlichkeit. Und sie auch schon erlebt. Vor vielen Jahren war ich zu Gast bei einer Familie und sie drängten mich, in ihrem Bett zu schlafen und legten sich selber im Wohnzimmer auf eine Matte. Solche Dinge. Ich bin sicher ich werde viel davon erfahren auf meinem Trip.
Dazu im Kontrast steht die Unmenschlichkeit der Obdachlosigkeit. In New York ist sie im Vergleich zur Westküste allerdings recht eingeschränkt. Und trotzdem herzzerreissend, wenn man eine Frau mit Kind im Arm dasitzen sieht und sie immer kurz vor dem Einnicken ist. Oder die Frau im Rollstuhl, die irgendwie umgekehrt im Rollstuhl sitzt, um so zu schlafen. Ich begegne ihr später noch einmal im Gespräch mit einer anderen Frau, das freut mich. Was immer der Grund dazu ist. Andere liegen verkrümmt auf Bänken, auf einem Kinderspielplatz oder direkt auf dem Steinboden.
Das erinnert mich an eine Serie, die ich im Flugzeug geschaut habe. 7 vs Wild in Panama. Da versuchen 7 Abenteurer fast ohne Ausrüstung 7 Tage in der Wildnis zu überleben. Die grosse Herausforderung bei der Folge, die ich im Flugzeug gesehen habe bestand darin, wie man sich einen Shelter und eine Liegestätte baut. Mehrere Teilnehmer klagen über harten Untergrund, dass sie schlecht geschlafen haben, dass sie unbedingt etwas besseres bauen müssen. Nach den ersten Eindrücken in New York sind das alle Weicheier…
In Bezug auf Obdachlosigkeit ist spannend, warum sie in den USA so weit verbreitet ist. Dies hat wohl mit dem stärkeren Fokus auf „Eigenverantwortung“ zu tun, einem Wert, der in den USA stärker betont wird als in Europa. Jeder ist für sein Leben selbst verantwortlich – dem Reichen wird weniger geneidet, dem Armen weniger geholfen. Erfolg wird im die amerikanische Kultur stark beeinflussenden Calvinismus als Zeichen für die Gnade Gottes gesehen, Misserfolg als Zeichen dafür, dass man genau diese Gnade nicht verdient hat. Oder zumindest selber schuld ist an der eigenen Misere.
Das amerikanische Sozialsystem ist allerdings rein zahlenmässig gar nicht so klein. Die Ausgaben sind nicht viel kleiner als in Europa, sehr viele Menschen beziehen „Food stamps“, die eine Grundsicherung sicherstellen sollen. Verhungern muss in den USA niemand. Wer aber in Schulden gerät, weil er zum Beispiel ohne Krankenkasse eine hohe Arztrechnung nicht beglichen hat, aus der Wohnung geworfen wurde, weil er die Miete nicht mehr bezahlen konnte etc. landet schnell auf der Strasse. Und der Weg zurück ist steinig, schwierig und zu oft unmöglich. Insbesondere wenn dazu Drogen kommen, die gerade unter Obdachlosen sehr weit verbreitet sind.
Auch hier sind die Zustände, denen ich in New York begegnet bin, noch harmlos. Aber ich bin sicher, ich werde im Verlauf dieser Reyse noch ganz anderem Elend begegnen. Allerdings auch die Schönheiten dieses Landes kennenlernen. Und hoffentlich nie im Freien ohne Matte übernachten müssen. Und wenn, dann werde ich es mit Würde zu ertragen versuchen, denn für zu viele Menschen ist dies tragischer Alltag.
P.S. Ich sehe die Frau im Rollstuhl ein weiteres Mal, sie hat ihren Stammplatz. Diesmal ist wieder jemand bei ihr – und gibt ihr etwas zu essen.
