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Noch 21 Tage Über Armut

Ich lese in einem Forum, dass in Argentinien die Armut von 41.7 auf 52.9 Prozent gestiegen sei. Mehr als die Hälfte der Argentinier sollen arm sein. Eine andere Person bringt folgende Zahlen ins Spiel: „1. Quartal: 54.8% 2. Quartal: 51.0% 3. Quartal: 39.9%“. Tendenz abnehmend. Das Problem dabei ist, dass es schwer ist, Armut zu definieren, der Begriff wird gerne missbraucht. Für Linke ist es wichtig, dass die Armut unter Milei regelrecht explodiert, Liberale gestehen wohl ein, dass kurzfristig die Armut steigt, dass sie aber langfristig sinken wird – und bereits wieder sinkt. Ich möchte mich dazu gar nicht äussern, wirklich zuverlässige Zahlen zu erhalten ist schwierig. Ich möchte lieber ein paar Beobachtungen formulieren. Diese beziehen sich mit einer Ausnahme auf sehr touristische Gebiete und sind deshalb nicht verallgemeínerbar.

Argentinien kennt seit Jahren, eigentlich seit Jahrzehnten nur Krisen. Faststaatsbankrott reiht sich an Fastaatsbankrott und manchmal gibt es auch einen richtigen Bankrott. Die Leute sind sich Krise gewohnt und nehmen es erstaunlich gelassen. Was mich erstaunt ist, dass ich in Chile (allerdings tatsächlich weniger in touristischen Gebieten) grosse Armut gesehen habe, obwohl Chile im Vergleich viel besser dasteht. Woran mache ich das fest? Einiges habe ich schon erwähnt, einiges möchte ich hier noch ergänzen.

  • In Chile gibt es Ikea. Decathlon. In Argentinien nicht. Die Investitionsbedingungen sind schlicht zu miserabel, was Milei nun ändern möchte. In Chile hat es viele amerikanische Foodketten. Gut, vor allem in Santiago, da aber dafür viele. In Bariloche habe ich einen (!) Mc Donalds gesehen, hier in Puerto Madryn hat es einen (!) Subway, wie sich das rechnet, weiss ich nicht. Die Distanzen sind gross, die Zutaten müssen ja auch irgendwie geliefert werden. Und wirken nicht so als ob sie vom lokalen Markt kämen…
  • Als ich vor Jahren durch Grenchen (ja, das in Solothurn) ging, fiel mir auf wie viele Geschäfte geschlossen waren. Rentierte nicht mehr. Ein Phänomen, das man überall in Europa sehen kann, vielleicht sogar noch stärker in den USA. Verödete Innenstädte, leerstehende Gebäude überall. In Argentinien? Gar nicht! Und das erstaunt mich. Es ist Saison, es müsste eigentlich mehr los sein. Der Tourismus läuft sicher schlechter als auch schon, aber die Geschäfte haben entweder Reserven oder rentieren noch genügend. Der einzige nicht wirklich touristische Ort, den ich bislang besucht habe (San Antonio Oeste) macht da keine Ausnahme. Allerdings war das Angebot in der Bäckerei mehr als bescheiden, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass die Nachfrage schlecht ist.
  • Heute habe ich glaube ich den ersten Menschen gesehen, der im Müll gewühlt hat. In Berlin und vielen Orten Europas ein alltägliches Bild. Hier nicht. Es gibt auch kaum Strassenhändler – hier in Puerto Madryn ausschliesslich Schwarze, die Sonnenbrillen, Käppchen und komische Dinge anbieten. Aber keine nativen Argentinier.
  • Die Supermärkte sind bislang eine absolute Enttäuschung. Teuer, aber auch kaum frische Ware. Das Gemüse ist meist welk, das Fleisch tiefgekühlt, Frischwaren gibt es kaum. Ich erinnere mich an einen unglaublich modernen, tollen Supermarkt in Minsk. Belarus. Wo ich es nicht erwartet hätte. Hier gibt es nur Läden, die teuer sind und vom Ambiente bei weitem nicht mit Aldi mithalten können. Supermärkte in Chile (nicht nur in Santiago) sind da qualitativ ein ganz anderes Kaliber. Können mit Europa durchaus mithalten.
  • Aber: in Chile habe ich winzigste Läden gesehen, die ein paar Tomaten und Zwiebeln feilbieten. Womit kein Umsatz generiert werden kann. Das habe ich hier noch nie gesehen – allgemein habe ich in Chile viel (!) mehr Armut gesehen als bislang in Argentinien. Das mag sich ändern, wenn ich nach Buenos Aires komme.
  • Hohe Armutsquoten lassen sich unter Umständen mit der Schattenwirtschaft erklären. Offiziell ist die Armut hoch, inoffizell arbeiten die meisten dieser Armen für ein Zubrot schwarz. Sind natürlich weiter arm, aber bei weitem nicht so arm wie es dargestellt wird. Was mich hier erstaunt: überall gibt es Quittungen. Hinweise auf die Schattenwirtschaft finde ich hier kaum.
  • Bonzenautos. Das Thema habe ich schon oft erwähnt und es sind natürlich Renault 12 und nicht 16. Also nicht die Bonzenautos. Aber weder in Chile noch in Argentinien habe ich bislang auch nur ein Auto gesehen, das im Seefeld zur Mittelklasse gehört… Erstaunt mich ehrlich. Gerade in Tourismusgebieten würde ich solche erwarten und auch wenn es mir politisch überhaupt nicht passt, ich habe letzthin einen Film über Charkiw, Ukraine gesehen (nahe an der Front) und da hat es eine sehr hohe Quote an Teslas und ziemlich luxuriösen Autos. Das erstaunt, wobei mir die Ukraine bei meinen Besuchen vor 2022 deutlich ärmer vorgekommen ist als Argentinien. Gerade Odessa, die „Perle am Schwarzen Meer“.
  • Argentinien ist kompliziert. In Supermärkten mit Karte zahlen braucht die ID. Wohl nur in Ketten. In kleinen Läden nicht, nicht in Restaurants. Man muss angeben, ob Debito oder Credito. Nur eine Rate. Das Busticket ist zwar online erhältlich, aber ohne QR Code. Es wird dann halt die Buchungsnummer abgetippt. Vieles braucht länger, ist mühsam. Die grösste Note ist meines Wissens die 10’000er. Irgend 9 Franken. Vor mir steht eine Frau, der Einkauf kostet über 100’000. Viele Noten. Gerne auch mit 1000er Noten. Die Kassiererin zählt es natürlich zweimal durch. Anstrengend. Nervenaufreibend, vielleicht aber auch einfach eine Meditationsanleitung…
  • Heute habe ich auch gelesen, dass es in Europa mehr Obdachlose geben soll als in den USA. Stimmt vermutlich nicht. Das Elend, das ich in Skid Row, Los Angeles gesehen habe hat auch mit der Zentrumsfunktion zu tun. Die es in Europa nicht in diesem Ausmass gibt. Gleichwohl scheint es mir unrealistisch, Obdachlosigkeit ist in den USA einfach ein zu grosses Thema. Die Dimensionen zu unfassbar. In Argentinien bislang – kein Thema. Wiederum, in Buenos Aires mag das anders ausschauen, irgendwo in der Provinz, aber Armut in Form von Elend ist mir in Chile bislang eingeschränkt begegnet (die extrem vielen Strassenverkäufer), in Argentinien überhaupt nicht. Nada. Vielleicht war der Peronismus ja doch ein Erfolg…
  • In Bariloche werde ich darauf hingewiesen, unter keinen Umständen in die Quartiere zu fahren, die hinter dem Berg liegen. Sie würden mir schon keine Knarre an den Kopf halten, aber… Ich bin mir weiter ziemlich sicher, dass das massiv übertrieben ist, aber vielleicht bin ich auch einfach naiv, weil mir nie was passiert ist. Nogo Areas gibt es natürlich auch in Europa, erst recht in den USA, auch in Chile, aber grundsätzlich ist Argentinien ein sicheres Land. Im Vergleich zu Rio de Janeiro, wird mir versichert, muss ich in Buenos Aires nichts fürchten. Ausser ich gehe in die wirklich schlimmen Viertel. Mit je einer Rolex an beiden Armen, die den Armen signalisieren, OK, der war zu billig.

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1 Gedanke zu „Noch 21 Tage Über Armut“

  1. Lieber Mister

    Spannend, was Sie da schreiben. Genaue Vergleiche. Das mögen die an der Falkenavenue.

    Darf ich einen Vorschlag machen? Sie setzen sich jetzt in den Flieger und besuchen zum Abschluss Ihrer Reyse noch La Paz Bolivien. Da soll es ein Metrosystem mit Seilbahnen haben. Persönlicher Tipp aus der Familie Bobo.

    Beste Grüsse
    X

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