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Black Swan – Wahlkampf

Sehr geehrter Herr s. Vielen Dank für Ihren wertvollen Kommentar zum Artikel „Attentat„. Den ich hier gerne nochmals zitiere:

„Unmittelbar nach dem Vorfall sagte ich zu meiner Frau: „Jetzt ist gelaufen. Er wird Präsident.“ Man muss Trumps taktische Intuition, die symbolträchtige Situation auszunutzen, lobend erwähnen. Dass er diesen Trumpf (!) aber – wie zu erwarten gewesen wäre – nicht spielt, ist mir ein Rätsel. Anscheinend geht er vorsichtig vor und beschränkte sich bisher auf Understatements wie „I took a bullet for democracy“ 🤣 Ja, es ist in der Tat ein „wild summer“, wie eine amerikanische Zeitung schrieb. Ohne den Rückzug Bidens und die quasi sichere Nominierung Harris‘ würde ich mit meinem Kommentar an meine Frau wohl Recht behalten.“

Dieses Frühjahr hörte ich vor allem zwei Kommentare in Bezug auf die US Wahlen: Trump ist eh gewählt oder Trump wird eh nicht gewählt, der hat seit 2016 keine Wahl mehr gewonnen und damals Millionen Stimmen weniger als Hillary Clinton erhalten. Meine Haltung war eine andere: diese Wahl wird durch einen „black swan“ entschieden.

Das Konzept des „black swans“ geht auf einen Gedanken von Nouriel Roubini zurück. Dass unvorhersehbare, aber äusserst wirkungsvolle Ereignisse die Wirtschaft stark beeinflussen. Ein halbes Jahr vor der Wahl einen Wahlsieger festzulegen schien mir zu gewagt. Vor allem, wenn es sich um zwei Herren über 75 handelt. In diesem Alter kann jeder Tag der letzte oder der erste einer langen Krankheit sein.

Die Schüsse auf Trump waren in meiner Argumentation ein „black swan“. Niemand hatte sie vorhergesehen, wenn auch ein Attentat nicht völlig unwahrscheinlich war. Und dennoch hatte ich mich womöglich geirrt. Vielleicht war es gar kein „black swan“ wie es auch Sie, mein sehr geehrter Herr s. empfunden haben. Es schien der turning point zu sein, ab nun schien es gelaufen.

Warum also nutzt Trump diese Trumpfkarte nicht gnadenlos aus? Ich habe nur einen spekulativen Gedanken dazu: das Trauma. Die Konfrontation mit dem möglichen Tod. Es würde in meinen Augen zu Trump passen, ein solches Ereignis wegzuwischen. Er hat zwar instinktiv aus politischer Sicht unglaublich gut reagiert (das ikonische Bild mit der Faust in der Höhe) und dennoch kurz darauf das Momentum wieder verloren. Angeschossen zu werden ist ein Bild der Schwäche, der Verletzlichkeit, vielleicht etwas, was Trump nicht zulassen kann. Auch er ist 78 und absolviert ein unfassbar kräfteraubendes Programm. Psychologie.

Umgekehrt könnte der Rückzug Bidens ein „Black Swan“ sein. Allerdings vielleicht nicht ganz so unvorhersehbar wie es einen „Black Swan“ auszeichnen würde. Die Demokraten haben strategisch äusserst fähige Leute und es erscheint relativ offensichtlich, dass das Ganze zumindest teilweise orchestriert war. Kamala Harris war definitiv nicht unvorbereitet gewesen, sie hat in meinen Augen sehr professionell reagiert (vielleicht auch zu professionell…).

Der Zeitpunkt des Rückzugs von Biden war sehr geschickt gewählt. Kurz nach dem Parteitag der Republikaner, der eigentlich den Wahlkampf im Sinne der Republikaner hätte pushen sollen. Es hat den Wahlkampf Trumps definitiv durcheinander gebracht und es wird spannend sein zu sehen, ob Kamala Harris diesen Schwung wird nutzen können.

Was Strategen wohl vorhersehen konnten war für mich eine Überraschung. War es vorher ein Wahlkampf alt gegen alt, unwählbar wegen Altersdefiziten vs unwählbar wegen diktatorischer Allüren, sieht Trump plötzlich uralt aus. Er ist inzwischen älter als Biden vor 4 Jahren. Und Harris wirkt dagegen fast jünger als damals Obama, obwohl sie auch schon 59 ist. Diese Dynamik erachte ich als spannend.

Was gerne vergessen geht und ich oben schon erwähnt habe: Trump ist unbeliebt. Trump hatte noch nie (!) eine Mehrheit der Amerikaner hinter sich. Auch nicht 2016. Von ihm geförderte Kandidaten verloren reihenweise. 2016 konnte Trump gegen Clinton knapp gewinnen, vermutlich wegen eines „black swans“ (OK, vielleicht verwende ich hier den Ausdruck etwas zu allgemein): Der FBI Chef James B. Comey hatte wenige Tage vor der Wahl neue Ermittlungen gegen Hillary Clinton angekündigt, die die Wahl wohl entschieden haben. Auch wenn die Ermittlungen dann im Sand verlaufen sind, respektive eingestellt wurden, weil nichts gefunden wurde. Clinton war allerdings auch – äusserst unpopulär gerade bei den ärmeren Weissen, die sie als „basket of deplorables“ bezeichnet hatte. Abschätzig.

Spannend wird sein wie Frauen und People of Colour auf Harris reagieren werden. Inhaltlich konnte Harris bislang wenig punkten. Es ist völlig unklar wie eine Präsidentschaft Harris aussehen würde, wofür sie einstehen, welche Ziele sie erreichen möchte. Sie ist wohl zu links für Amerika, die Frage ist, ob ihr das schaden oder nutzen wird. Anders als Biden vor 4 Jahren scheint sie die Unterstützung der Linken innerhalb der demokratischen Partei zu haben (z.B. Alexandria Ocasio-Cortez hat sich für sie ausgesprochen). Und es ist zurzeit nicht sicher, ob sie dafür Stimmen der Gemässigten verlieren wird. Wenn nicht, könnte das ein Game changer sein.

Bislang hat Harris auf jeden Fall vieles richtig gemacht. Sie hat das Thema Abtreibung lanciert, das für viele Amerikaner sehr wichtig ist. Und auch wenn es oft anders aussehen mag: eine grosse Mehrheit der Amerikaner ist für das Recht auf Abtreibung. Das könnte ihr durchaus Stimmen bringen. Trump laviert bei diesem Thema, Vance ist Abtreibungsgegner. Andererseits hat Harris in der Migrationspolitik, die ihr Biden quasi übertragen hatte, wenig Erfolge vorzuweisen und sich auch sonst während ihrer Vizepräsidentschaft wenig profiliert.

Sie setzt aber auch einen Kontrapunkt zu Biden: während dieser alt und schwach wirkt, versucht sie dynamisch und angriffig zu sein. Viral gegangen ist ihr Ausspruch „Say it to my face“. Sie sucht die Konfrontation, ihre Reden wie Körpersprache sind professionell, ihr Auftreten selbstsicher. Das kann ihr gerade als Frau auch schaden, könnte aber auch ein Trumpf sein. Genauso wie die Tatsache, dass sie politisch kaum fassbar ist. Das könnte sie für viele unwählbar – oder eben gerade wählbar machen. Im Sinne von „ich weiss zwar nicht, was sie genau will, aber besser als Trump wird sie schon sein“.

Ebenfalls spannend wird sein wie ihre „weird“ Kampagne wirken wird. Weird steht ja für: Western, Educated, Industrialized, Rich, and Democratic. Herr s. Ich weiss, dass Sie das wissen und dass sie auch wissen, dass es nicht darum geht. Und irgendwie eben gerade doch. Kleiner Insider Joke. Trump (und auch Vance) als weird, also „seltsam“ zu bezeichnen ist ein überraschender Move der Kampagne von Harris. Es könnte ihr als Überheblichkeit angekreidet werden (sie bezeichnet Trump von oben herab als weird) oder aber auch ein Augenöffner sein: lange war der Kampf Biden gegen Trump, alt gegen alt, in gewisser Hinsicht vielleicht ja sogar weird gegen weird. Und sie positioniert sich nun als „nicht weird“ vs. Trump. Als jung gegen alt. Als wählbar gegen unwählbar. Als Demokratin vs einen Mann, der sich nicht wirklich vom project 2025 abgrenzen kann und will, das auf jeden Fall Tendenzen aufweist, die USA in die Diktatur zu führen.

Mein lieber Herr s. Ich hoffe, Ihrem Kommentar mit diesen Worten gerecht geworden zu sein und freue mich auf weitere Kommentare von Ihnen!

Mit freundlichen Grüssen, Martin Rey.

2 Gedanken zu „Black Swan – Wahlkampf“

  1. Lieber Herr Rey

    Vielen Dank für diesen äusserst umsichtigen Beitrag. Ich komme mir ja geehrt vor, aber das war ja schon so, als Sie, mein Lieber, noch nicht abgehoben waren. Wenn man Sie so liest, überlegt man sich ernsthaft, ob man sein NZZ-Abo noch braucht. Dieser Beitrag stellt Gujers samstägliche Tiraden locker in den Schatten.

    Danke für den Hinweis auf den Black Swan. Spannend, wie Sie das in den Wahlkampf einflechten. Wobei: Geht der Begriff nicht auf einen gewissen Nassim Nicholas Taleb zurück? Er war so nett, ein paar Jahre später das Theorem der Antifragilität einzuführen. Das Buch habe ich damals gelesen und es enthielt zahlreiche Verweise auf das Black-Swan-Prinzip.

    Daneben möchte ich noch auf einen Beitrag der Washington Post verweisen. Er besagt, dass Kamala Harris bei einer Ernennung eines Bundesrichters eine Frage an Justice Kavanaugh richtete, welche ihre Person und für was sie stehe auf den Punkte brächte. Sie fragte ihn:
    „Can you think of any laws that give the government the power to make decisions about the male body?“
    Dies nur als Beilage. Weiterhin gute Fahrt, ich freue mich von Ihnen zu hören.
    Herzliche Grüsse, S.

  2. Lieber Herr s. Das ist mir jetzt natürlich ausserordentlich peinlich! Roubini hat das Black Swan Konzept aufgegriffen, aber ursprünglich stammt es natürlich von Nassim Taleb. Das Alter, das Alter, da erinnert man sich nicht mehr so genau, googelt schnell und schon – ist der Fehler passiert. Danke für den Hinweis!

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