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Tag 30 Drei Platten

Wilton

Heute sind über 100 Kilometer Nonstop auf einem Railtrail angesagt. Wahnsinn, wo es überall Bahnen gegeben hat und Wahnsinn, wie viele in Biketrails umgewandelt wurden. Das kostet Geld, weshalb man in Wisconsin einen Trailpass benötigt. Zu erstehen bei einem lokalen Geschäft. Toll. Gut. Die Konsequenz, wenn man keinen hat ist nicht soooo drastisch. 5 Dollar Busse. Der Pass kostet 5 Dollar. Und doch haben viele ihren Pass stolz am Velo befestigt, so dass alle sehen, dass sie bezahlt haben. Bei meinem ersten Stopp hat es ein kleines Restaurant und in der Tat verkauft mir eine wunderhübsche junge Frau einen Pass. Hat sich gelohnt.

Nach Reedsburg

Bald schon komme ich mir etwas doof vor. Mir kommen erst Dutzende, dann Hunderte Velofahrer entgegen. Und alle grüssen mich. Natürlich. Es hat sich rumgesprochen, dass Reyman on Tour ist. Grüssaugust. Auch mal nett. Aber warum so viele Leute auf einem Trail, der mir schon Sorgen bereitet hatte? Er ist nämlich nicht asphaltiert und nachdem es gestern stark geregnet hat. Aber geht alles gut. Für mich. Ich habe fette Reifen. Andere fahren mit Gravel- oder sogar Rennvelos. Was einem zum Verhängnis wird. Der Sturz sieht heftig aus. Ich grüsse freundlich und fahre weiter. Ich kann ja nicht bei jedem Unfall, also wirklich. Nein. Seine zwei Kumpels habens bemerkt und mein Nothelferwissen ist einerseits unbrauchbar, andererseits wars dann wohl doch nicht so heftig.

Irgendwann sehe ich ein Sign: „Trail in use for special event: Ride across Wisconsin“. Aha. Wisconsin Grenze zu Grenze. Irgendwas. Wahnsinn. Dafür brauchte ich 4 Tage. Da muss man schon mit dem Rennvelo drangehen. Etwas weiter (also eigentlich vorher, aber das hätte den Fluss der Geschichte gestört) hockt ein Mann am Strassenrand. Ich halte an und frage fürsorglich, ob ich ihm helfen könne. Er verneint. Tubeless. Aber er habe einen Tube dabei. Ich hake nochmals nach. Schliesslich habe ich eine ganze Velowerkstatt dabei. Voll ausgerüstet für jede Eventualität. So hat meine neue Kette bereits Rost angesetzt, Reyman nimmt einfach das mitgebrachte Öl hervor und gut ist. Aber der Typ kann sich selber helfen. Auch gut.

Wilton

Der Verkehr wird immer dichter, natürlich hats auch Idioten drunter, die nebeneinander fahren, quatschen und mich nicht sehen. Sprich: nicht grüssen. Das macht mich dann richtig sauer. Ehrlich.

Drei Steigungen sind heute vorgesehen. Die sehen auf der App richtig krass aus. Der Zug war aber nicht so stark und so merke ich kaum einen Unterschied zwischen normale Steigung und ultrakrasse Steigung. Spannend ist aber, dass am höchsten Punkt jeweils ein Tunnel gebaut wurde. Fast ein wenig gruselig. Relativ lang, links und rechts ab und zu ein Licht, sonst dunkel. Stockfinster. Vor dem Tunnel hat es einen Hinweis, dass man das Velo durch den Tunnel stossen solle. Das ist üblich. Sobald es eine Herausforderung gibt: zu Fuss. Und alle halten sich dran. Ausser mir. Was soll das. Das ist ein Biketrail. Eben.

Vor der ersten Steigung hat es einen Bikeshop, das ist offensichtlich der Beginn des Events. Zu viele Leute. Eine Frau spritzt ihr Bike mit einem Schlauch ab, ich überlege kurz, es ihr gleichzutun, aber: zu viele Leute. Also gehts halt mit dreckigem Bike den Berg hoch. Und durch die Tunnels.

Bei einem der nächsten Orte hat es eine Tribüne, viele Leute, aber ich bin eine Woche zu spät. Hier gabs ein „Truck and Tractor Pulling“. Wie bei den Amish in New Berlin. Scheint hier eine gewisse Tradition zu haben. Ich will mir etwas zu trinken kaufen, aber der Taco Shop hat nur Diet Pepsi. Nicht mit mir.

Zwischen Wilton und Norwalk

Der dritte Tunnel ist der Tollste. Er ist stockdunkel, ausser ein Reyman fährt mit Scheinwerfer hindurch. Und überholt Fussgänger mit und ohne Velo. Gegen Ende des Tunnels sehe ich dann zwei Leute Lichter einpacken. WTF? Wollen die den Tunnel sabotieren? Oder sind die Lichter eigentlich gar nicht vorgesehen? Mir egal, ich fahre weiter. Bis ich auf eine Familie stosse, die etwas traurig aussieht. Die Mutter am Handy, der Vater am Pumpen, das Kind am blöd dreinschauen. Ich halte an. Will helfen. Die Mutter bricht das Telefonat ab. Der Vater ist sauer, weil er doch keine Hilfe benötigt (wie steht er jetzt da!). Und das Kind versteht nicht, warum ein alter Mann mit einem Kindervelo seine Eltern belästigt.

Kein Ort (kein GPS, da Tunnel)

Ich fahre weiter. Mache etwas vorwärts, denn: der Mississippi wartet. Schon geil. Um 4 will ich im Hotel sein. Ich habe das billige gewählt. Knapp 80 Dollar. Das nächst teurere wäre über 200 Dollar gewesen. Allerdings auch mit einem deutlich höheren Standard wie ich schon bald bemerken werde. Doch bevor es dazu kommt fühlt sich mein Hintern etwas seltsam an. Ich kenne das. Aber vielleicht ist ja nur die Sattelstütze weicher geworden. Hat sich mein Gepäck verschoben. Oder: Platten. Der dritte. Heute und seit meiner Tour.

Bangor

Im Schlauch wechseln bin ich inzwischen richtig gut. Gepäck runter, Bike auf die Seite, Hinterrad ausbauen, Reifen weg, Schlauch raus, neuer Schlauch rein, Reifen wieder rauf, halt: zuerst Nagel erkennen, Nagel rauspulen, Nagel verfluchen, dann Rad einbauen, Gepäck wieder drauf und weg. Bloss: es hat Mücken. Viele Mücken. Sehr viele Mücken. Vorteil: ich bin schnell. Früher bin ich jeweils fast verzweifelt, nun geht es schneller als bei der Formel 1. Vor allem, weil ich eine elektrische Pumpe dabei habe. Kaum grösser als eine kleine Pumpe, aber viiiiiiiel komfortabler. Ich hänge sie an, drücke den Knopf, es pumpt. Ich sammle alles zusammen. Es pumpt. Ich stelle das Rad auf. Es pumpt. Ich bringe das Gepäck am Gepäckträger an. Es pumpt. Und als ich fahrbereit bin ist der Schlauch voll. Ding weg und ab.

Jetzt gebe ich erst recht Gas und bin in Nullkommanichts beim Hotel. Absteige. Egal. Wenig später bin ich eh am Mississippi, packe meine Drohne aus und filme. Sitze ich am Mississippi und lese. Fahre ich durch La Crosse und staune. La Crosse Bierhaus. Geil. Da sitze ich jetzt, warte seit einer halben Stunde auf die Bratwurst mit Kartoffelsalat und Spätzle, es spielt eine Band, die beim Betreten „Ein Hut, der hat drei Ecken“ performt, leider bisher das einzige Lied auf Deutsch. Immerhin, jodeln tun sie noch dazwischen. Ich trinke deutsches Bier und soeben wurden mir irgendwelche komischen Käseteile hingestellt, for free, weil die Bratwurst so lange daure. Mann. Schlachten die das Schwein erst?

La Crosse

Nein, die wissen nur nicht, dass ihr Restaurant perfekt deutsch ist. Deutschland, wo der Service zu oft miserabel ist und nicht nur die Bahn einer anderen Zeitrechnung folgt. Für mich gehts jedenfalls weiter in Richtung Westen und ich werde Stunde um Stunde verlieren. Da kümmern mich die paar Minuten hier eigentlich wenig…

La Crosse

Nachtrag: Die Liveband hat fertig. 5 Minuten nach dem letzten Absatz. Es ist ja auch schon halb Acht. Das ist für die USA spät, etwas was mich immer wieder fasziniert. Um halb sechs sind die Restis voll.

Nachtrag 2: Die Band machte nur Pause. Und ich kriegte Essen. Bloss das Falsche. Statt Bratwurst Chicken. Dafür gratis. Mann. Ich hatte ihn noch gefragt, welche Bratwurst ich wählen soll und er hat jene mit Käse empfohlen. Und jetzt bringen sie Chicken ohne Käse? Manchmal verstehe ich die Welt nicht…

Nachtrag 3: Ich hatte noch einen Kartoffelsalat bestellt. Das war zuviel, hat er speziell erwähnt: 2 Beilagen! Dabei war das ein Hühnerschnitzel (Medium Size), eine kleine Schüssel Spätzle, meint der wirklich, ich sei satt? Auf den Kartoffelsalat warte ich nun seit 10 Minuten und das Lokal ist ziemlich leer. Ich glaube, ich werde darauf verzichten müssen.

La Crosse

Nachtrag 4: Sorry. Aber muss sein. Die Bratwurst ist da. Oder besser: Würstchen. Mit Kartoffelsalat. Die sind witzig hier 🙂

Nachtrag 5: Fast alles ist geschenkt, weil ja Fehler vom Haus. Die Band spielt weiter, inzwischen ist es acht Uhr vorbei, es sitzen noch 5 Gäste an der Bar, langsam wirds einsam hier. So fahre ich nun zu meinem Hotel, hier ists zwar gemütlich, aber ich habe kein Wifi. Und will doch noch Bilder und Videos einfügen. Den morgigen Tag planen. Schlafen. Solche Dinge.

Letzter Nachtrag. Die Schlingel sind nach 8 natürlich alle in der Bibliothek. Ist übrigens Samstagabend, da kann man schon mal über die Stränge hauen!

La Crosse
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5 Gedanken zu „Tag 30 Drei Platten“

  1. Lieber R

    Sie sind vielleicht ein Schlingel! Aber einer der guten. Fast hätten Sie ein Kleinkind überfahren. Und: Mein Beileid in dieser Wurstsache…

    Kompliment zum Drohnenflug, mir scheint, sie wird mittlerweile rege genutzt.

    Die Bildunterschriften wollen wir lieber weglassen. Wer hat Ihnen denn gesagt, dass das Ihrer Sache dienlich sei? Konzentrieren Sie sich aufs Schreiben des Fliesstexts, der löst ja nun schon seit

    EINEM MONAT 🥳

    die Qualitätsversprechen ein. Gratuliere also zu 30 Tagen Überleben im Land der Radwege. Unübliches Attribut, aber dank Ihrer Bloggerey (guter Websitename, aber ich möchte Sie nicht schon wieder unter Druck setzen) eben doch richtig.

    Grüsse!

    1. Ein Schlingel? Uiuiui, das erinnert mich an ein Luusmeiteli, das bald Geburtstag hat! Uiuiui.

      Was ich aber doch korrigieren möchte: ich habe beinahe irgendso einen Squirrel oder so überfahren, der plötzlich über die Strasse gehuscht ist, das Kleinkind im Bild war aber rein gar und gar nie gefährdet, das hatte ich natürlich komplett im Blick. Kurz: das sieht im Film viiiiiiiiiiiiiiel gefährlicher aus als es war. Eigentlich wollte ich vor allem die Frau zeigen, die ihr Velo wäscht. Das war das Ereignis des Tages!

  2. Lieber Martin

    Dir ist schon klar, dass morgen das neue Schuljahr beginnt. Doch das kümmert dich im Moment wohl weniger (und mich eigentlich gar nicht).
    Eigentlich beneide ich dich um die kulinarischen Höhepunkte deiner Reyse: Mir läuft das Wasser im Munde zusammen, wenn ich sehe, was du heute gegessen hast.
    Hör dir doch mal «On the raod again» an, natürlich das Original von Willie Nelson.

    Take care
    Hans

  3. Bin beeindruckt, ab Deiner Tour im Regen (honestly).
    Aber:
    Schlauch wechseln, nicht flicken? Und dann elektrisch aufpumpen ohne Bizeps? Da gibt es noch Luft nach oben. 😉

    „Und das Kind versteht nicht, warum ein alter Mann mit einem Kindervelo seine Eltern belästigt.“ – gut beobachtet.

  4. Ach Boomer, Schlauch flicken? Geht das? Und wozu? Den kann man ja einfach wieder neu kaufen. Ist viel einfacher, schafft Arbeitsplätze und der hält dann ja auch garantiert. Grummel. Grummel. Schlauch Nr. 1 mehrere Löcher. Schlauch Nr. 2 Ventil defekt. Schlauch Nr. 3 ausgewechselt – und im Hotel geflickt. So einige europäische Wurzeln habe ich doch noch 🙂

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