Gestern erreiche ich Salt Lake City, mein gemietetes Tiny House, wo ich 5 Tage zu bleiben gedenke. Die Fahrt ist wenig ereignisreich, endlich wieder Velowege, etwas viele Baustellen, etwas viel Gegenwind, aber Sonne wie fast immer und eigentlich alles gut. Ich will eigentlich nicht schon wieder mit platten Geschichten langweilen, aber speziell ist es schon. Gestern morgen hatte mein Vorderschlauch noch 30 statt 50 psi Druck. Platten? Ich pumpe auf und fahre ohne Panne. Heute morgen ist die Luft dann draussen. Ich ersetze den Schlauch durch einen Neuen, pumpe den alten auf, um herauszufinden, wo das Loch ist. Der Schlauch ist bis jetzt voll. Dafür hat heute Abend der neue Schlauch plötzlich fast keine Luft mehr drin. Ich kann noch 10 Kilometer weit fahren, pumpe nochmals auf und eine Stunde später hält er noch. Kurz: allerhöchste Zeit für einen Service, der morgen stattfinden soll. Ich nehme an, dass es im Pneu irgendwas spitzes hat, das den Schlauch nur anritzt. Wobei es schon seltsam ist – dasselbe mit zwei Schläuchen.
Aber eben. Keine Plattengeschichten mehr. Hoffentlich. Dafür ein paar Worte zu „meinem“ Tiny House. Das gestern kein Wifi hatte. Ich schrieb dem Besitzer, der antwortete nicht. Es fühlt sich ein wenig an wie „das musst du wissen, da antworte ich nicht“, eine Geisteshaltung, die ich verabscheue. Ja, das Wifi-Passwort steht auf der Airbnb Website. Woher soll ich das denn wissen? Jetzt funktionierts jedenfalls. Das Haus hat zwei Stockwerke. Im unteren Stockwerk eine kleine Stube – Sofa und Fernseher und fast die ganze andere Hälfte die verhältnismässig völlig überdimensionierte Küche. Sie ist super ausgerüstet, hat alles, was man sich wünschen kann (bis auf eine Eis- und eine Spülmaschine…), aber es gibt keinen Tisch. Nur der Couchtisch vor dem Fernseher. Eigenartig. Dafür Waschmaschine und Trockner, Trockner weniger geeignet für Merinowolle, aber die Waschmaschine hat durchgehalten…
Das Bad neben der Küche ist dagegen ultraklein. Unter der Treppe hat es einen ungenutzten Stauraum, was wiederum seltsam ist, da es im oberen Stockwerk zwei riesige Kästen hat, auch diese beinahe unbenutzt. Sie sind zudem extrem blöd angeordnet, so dass der sowieso schon eher kleine Raum stark beeinträchtigt ist. Man könnte so viel mehr herausholen… Aber auch so, das Haus ist nett. Und ein absolutes Privileg.
Denn Salt Lake City ist die erste (!) Stadt auf meinen inzwischen über 7000 Kilometer Reise mit einem riesigen Obdachlosen- und Drogenproblem. Selbst in New York, Detroit oder Chicago habe ich das auf jeden Fall nicht so wahrgenommen. In New York gab es viele Obdachlose, aber nicht dieses Elend, das hier zu sehen ist. Komische Gestalten überall. Die wie Zombies wirken. Kaputt. Am Ende. Als ich heute Abend nach Hause gefahren bin, habe ich an einer Hauptstrasse kurz angehalten. Und fuhr gleich ein paar Schritte weiter, denn da sass wer. Und ein paar Meter weiter wieder wer. Die ich nicht bemerkt hatte. Oder gestern Abend. Ich ging noch kurz in einen nahegelegenen Supermarkt. Auf dem Weg eine schlecht gekleidete Frau offensichtlich auf Drogen. Ein Auto mit offenem Kofferraum (da war was faul), in der Seitenstrasse zwei Typen, die irgendwas taten, ich ging schnell an ihnen vorbei, einfach komisch. Man spürt, dass etwas nicht stimmt, auch wenn es sich nicht beschreiben lässt.
Erst dachte, ich dass ich einfach in einem „schlechten“ Quartier Obdach gefunden habe, aber die ganze Stadt ist bevölkert von solche Gestalten mit äusserst tragischen Geschichten. In Chicago gab es ein paar Familien, die ihre Geschichten auf Schilder geschrieben haben. Familien aus Südamerika, die alles verloren haben und so zu überleben suchen. In Cincinnati hatte es Obdachlose, die Geschichte mit dem T-Shirt, aber auch in Zürich gibt es Obdachlose. Und in Berlin noch viel mehr. Anders ist hier das Elend. Und wie weit es verbreitet ist. In der Innenstadt.
Zum Abendessen fahre ich etwas den Hügel hinauf in ein mediterranes Restaurant. Schicke Gegend. Da lebt es sich gleich ganz anders. Es hat auch schöne, gepflegte Parks in der Stadt, eine Strassenbahn, Einkaufszentren und natürlich das berühmte Tempelviertel. Was aber auch auffällt: anders als eigentlich überall bisher hat es keine öffentlichen Toiletten. Oder sie sind geschlossen. Der Zusammenhang ist offensichtlich, diese ziehen Obdachlose an. Wobei: doch, an einer Stelle, die ich morgen nochmals befahren möchte hatte es eine Vielzahl von Klos – das sehr zentral gelegene Elendsviertel, wo es auch sonst eine gewisse Infrastruktur gibt.
Ich möchte dieses Thema eigentlich noch stärker vertiefen, weshalb ich es für den Moment dabei bewenden lasse. 2019 hatte ich unter anderem Honolulu, Los Angeles und San Francisco besucht, Honolulu hat extrem viele Obdachlose, aber das Elend scheint kleiner zu sein. An LA und San Francisco kommt Salt Lake City natürlich nicht ran, aber es ist deprimierend.
Reyman!
Ich gratuliere zu 60 Tagen on the road. Sie wissen: Der Mensch braucht 60 Tage, um sich an etwas zu gewöhnen (z.B. Joggen, Tagebuch schreiben oder so). Was sagen Sie? Haben Sie das Reysen verinnerlicht? Das Schreiben? Das Velofahren ja schon, sagten Sie zumindest in einem anderen Post. Ich freue mich auf eine Antwort.
Herzliche Grüsse
Mr. S