Valparaiso wird in jedem Reiseführer als Hotspot erwähnt. Faszinierende Stadt am Meer. Ich bin ein wenig enttäuscht. Auch wenn ich den Charme der Stadt auf den zweiten Blick durchaus erkennen kann, habe ich deutlich mehr erwartet. Ja, es hat viele „Murals“. Aber die Stadt ist längs nicht so magisch wie sie beschrieben wird.
Heute fahre ich zurück nach Santiago. Wo ich nochmals 3 Nächte bleibe. Ich habe noch neue Quartiere entdeckt, die ich noch nicht kenne. Eher die reicheren Viertel. Das nimmt mich wunder. Zudem die Villa Grimaldi, wo zur Zeit Pinochets gefoltert wurde. Diese Geschichte wird hier aber kaum aufbereitet und wenn ich es richtig verstanden habe, wird man von den Gräueln der Vergangenheit nichts mitkriegen.
Im Airbnb angekommen erwähne ich gegenüber dem Vermieter, dass ich aus Valparaiso komme. Er meint trocken: er habe gehört, das sei eher heruntergekommen inzwischen. Ich muss ihm nicht unrecht geben. Die Innenstadt stinkt, die Uferpromenade hätte nicht einen Anstrich, sondern eine Runderneuerung notwendig. Sein Kommentar: Communistas würden die Stadt regieren. Das wiederum ist spannend. Denn der Gegensatz zwischen Kommunisten und Liberalen war in diesem Land enorm – und ist es auch heute noch. Darauf werde ich zurückkommen.
Er erwähnt noch einen weiteren Punkt. Als ich mein Velo nicht direkt in die Wohnung mitnehme, sondern (im umzäunten !) Innenhof an ein Gitter anschliesse, meint er, ich solle vorsichtig sein. Kleinkriminalität. Sei in letzter Zeit massiv schlimmer geworden. Ich betone, dass mein Schloss sicher sei. Er meint, ja, aber der Sattel etc. Ich bin da zuversichtlich, da es dafür doch Werkzeug braucht, aber vielleicht bin ich ja naiv. Die Erklärung, warum es schlimmer geworden sei finde ich aber spannend: Flüchtlinge aus der Karibik. Aus Haiti und Venezuela. Armutsimmigration. Ohne Unterstützung wie in Europa. Erklärt wohl einen Teil der Armut, die ich schon beschrieben habe. Heute um die Ecke eine junge Frau mit zwei vorpubertären Buben, die Schleckstengel verkauft. Keine Chance. Wie kann die überleben?
Dieses Thema habe ich ja schon oft erwähnt – Liberalismus vs Sozialismus – und wird sicher wieder Thema sein. Venezuela wurde durch den „Sozialismus des 21. Jahrunderts“ nicht nur komplett niedergewirtschaftet, sondern es destabilisiert auch Länder drumherum. Wirklich tragisch. Und so bleibt die Frage: ist die wahrgenommene Armut in Chile vorwiegend auf diese Migration zurückzuführen (was sicher zu einfach wäre) oder existierte sie auch zuvor?
Was ich auf jeden Fall sagen kann: in Chile gibt es einen grossen Mittelstand, viele Quartiere von Santiago, letztlich aber auch von Valparaiso können definitiv mit Süd- oder Osteuropa mithalten, manche definitiv mit dem Berlin vor 10 Jahren, das für Aufbruch stand und morgen möchte ich noch in eines der reichen Quartiere fahren, das wohl auch in Westeuropa sein könnte. Heute war ich zumindest in einem Decathlon, daneben ein Laden von Victorinox, ein Jumbo, der ev. nichts mit jenem aus Frankreich zu tun hat, aber ein absolut konkurrenzfähiger Supermarkt im Stil von Migros ist. Wohl nicht zufälligerweise im Basement des höchsten Turms von Südamerika zu finden. Wo hingegen der Torre David in Venezuela lange ein abgefuckter Slum war. Ich habe dazu sogar einmal ein Buch gekauft, schockierend. Der Verfall Venezuelas – ganz ohne Krieg – ist seiner Radikalität wohl einzigartig. Dazu kommt Haiti, doch das ist kaum verfallen, weil es nie wirklich etwas gegeben hat, ausser faszinierende Menschen, Landschaften und Kultur.
Chile hat während rund 15 Jahren unter einer der schlimmsten Diktaturen des 20. Jahrhunderts gelitten. Das soll etwas heissen. Und trotzdem steht das Land heute erstaunlich gut da. Ist – trotz sozialen Protesten vor wenigen Jahren – weiterhin das wirtschaftliche Vorzeigeland ganz Lateinamerikas. Erklärungen dafür sind schwierig, doch möchte ich auch dieses Thema in einem der nächsten Posts wieder aufnehmen.
Lieber Herr Barty
Vielleicht macht es nicht den Anschein, aber Ich folge Ihnen auch nach Chile. Ich lese Ihre Beiträge mit Freude und bin gespannt, wohin Ihre Reyse Sie noch führen wird. Eine Frage stellt sich mir im Moment. Sie sagen hier, dass Chiles Sozialismus die Nachbarländer destabilisiert habe. Wie meinen Sie das?
Herzliche Grüsse aus dem saukalten Zü****