Die Fahrt nach Austin war herrlich. Ein Schlafabteil für mich alleine, eine ruhige Nacht mit angenehmen Bewegungen des Zuges. Wäre gerne noch lange liegengeblieben. In Austin angekommen spricht mich mal wieder jemand auf mein Brompton Velo an (geschieht dauernd), wir kommen ins Gespräch und ich erwähne „Wahltag“ und dass ich bisher erstaunlich wenig wahrgenommen habe. Der Mann hat eine mögliche Erklärung dafür: Angst.
Die Beobachtung war auf jeden Fall richtig. Der Wahlkampf findet im Fernsehen statt, nicht in der Realität. Das habe ich schon sehr anders erlebt. Und soll auch bei den vorherigen Wahlen völlig anders gewesen sein. Dieses Jahr wollen Menschen sich nicht outen. So die These. Und das passt zu Berichten, die ich gelesen habe: sobald man Politik anspricht, verstummen die Leute. Ist mir auch so geschehen. Die Gespräche, die ich selber geführt habe, aber auch Gespräche, die ich mit einem Ohr mitgehört habe, drehten sich eigentlich nie um Politik. Es fehlen aber auch Rallies, Demonstrationen, Kundgebungen, nur schon Stände an denen Wahlkampf betrieben wird. Nichts. Vielleicht an einem Volksfest je ein Stand der beiden Parteien, wo alte Leute dahintersitzen und sich unter sich unterhalten. Zeugen Jehovas erscheinen aktiver. Das ist einfach so ein unfassbarer Kontrast zu dem, was man am Fernsehen sieht.
Herr Abrakadabra hat gestern in einem Kommentar eine spannende Frage gestellt. Gewisse Einschätzungen, die ich gemacht habe. Hätte ich die nicht auch von Zuhause machen können? Brauchte ich dazu durch die USA zu fahren? Für eine Beobachtung wie die obige ja. Für meine Gedanken zu „warum wählen Menschen nicht Kamala Harris“: bedingt.
Bro nennt dies Fahrtwindgedanken. Ein passender Begriff. Es geht mir nicht um eine professionelle Abhandlung, um eine wissenschaftliche Untersuchung, sondern es sind oftmals einfach Gedanken, die mir über den Tag in den Sinn kommen. Und so interessiere ich mich beispielsweise weniger für die Frage, warum Leute Trump wählen. Dazu lese ich fast jeden Tag einen Artikel in irgendeinem Medium. Aber die Frage, warum insbesondere unentschlossene Wähler unentschlossen sind, die finde ich spannend. Und in Los Angeles wurde mir bewusst, dass viele Menschen in den USA Kalifornien nicht als Paradies wahrnehmen, sondern als abschreckendes Beispiel. Und dazu gehört die Obdachlosigkeit. Natürlich die liberalen Gedanken, wozu die political correctness gezählt werden muss. Zwei Punkte, die ich etwas näher ausgeführt habe.
Woher weiss ich das, lautete eine Frage von Herrn Abrakadabra. Ich weiss es nicht. Ich habe viele Bücher gelesen über die USA, lese täglich Zeitung, Zeitschriftenartikel und daraus kulminieren sich dann solche Fahrtwindgedanken. Und das Spannende an diesen Gedanken ist für mich, dass sie einen Aspekt behandeln, der in der europäischen Diskussion zu kurz kommt. Zumindest in meinem linksliberalen Umfeld sind eh alle gegen Trump. Und für die Demokraten. In den USA hingegen gibt es eben grosse Vorbehalte gegen die Demokraten, ein Aspekt, der in meinen Augen sehr selten erwähnt wird. Die Leute sind nicht einfach pro Trump. Sie sind explizit gegen Harris. Sie ist äusserst unbeliebt. Was mit ihrer Rolle als Teil des „Establishments“ zu tun hat. Dass sie – anders als Trump – abgehoben wirkt. Aber auch, dass wie ich schon gelesen habe eine demokratische Kandidatin aus Kalifornien kaum eine Wahlchance habe. Einfach, weil sie damit für viele Menschen für etwas steht, das sie ablehnen. Unter anderem Political Correctness, wäre meine These. Überregulierung. Minderheitenrechte. Etc.
Ein anderer Gedanke war, dass Trump ein gut laufendes Land von Obama übernommen hat, eine „Mess“ hinterlassen hat und deshalb Biden jetzt schlechter dasteht. Die Demokraten werden dafür verantwortlich gemacht, obwohl die Ursache bei den Republikanern liegt. Oder anders formuliert: gegen Trump müsste eigentlich jeder gewinnen, worin liegt es also begründet, dass das Rennen so knapp zu sein scheint, er die Wahl womöglich gewinnen wird? Einerseits, weil er Leute in seinen Bann ziehen kann, andererseits, weil die Demokraten von vielen abgelehnt werden. Aus ganz unterschiedlichen Gründen, egal, ob zu Recht oder zu Unrecht. Und einige dieser Gründe habe ich herauszuarbeiten versucht. Halt auch, weil mir solche Gedanken hier in den USA gekommen sind, in Europa womöglich nicht.
Ich möchte noch einen ganz anderen Aspekt ergänzen. Ist es notwendig vor Ort zu sein, um darüber berichten zu können? Das ist in meinen Augen oft eine Illusion. Besonders lustig, wenn ein Korrespondent sich in sagen wir Abidjan (Elfenbeinküste) aufhält und über Ereignisse in Nordostnigeria (Boko Haram) schreibt. Ist ja beides Afrika. Sogar Westafrika. Aber völlig verschiedene Länder, 2000 Kilometer Luftdistanz. Der liest womöglich afrikanische Onlinezeitungen, schaut afrikanische News – die auch in Europa zugänglich sind. Aber kriegt nicht am eigenen Leib mit, was in Maiduguri, Nigeria passiert.
Ich weiss leider nicht mehr wie der Autor heisst, der diesen Gedanken in meinen Augen sehr gut herausgearbeitet hat. Um wirklich vor Ort berichten zu können, muss man wohl vor Ort leben. Ich habe Anfang 1990er Jahre fast ein Jahr in den USA gelebt und in Nordkalifornien die Highschool besucht. Da habe ich natürlich extrem viel mehr mitgekriegt als bei einer Veloreise, wo ich am Abend müde war und nur noch allein sein und schreiben wollte… Wenn der Korrespondent im erwähnten Abidjan (Elfenbeinküste) aber seine Kinder in eine internationale Schule schickt, selber in einer gated community lebt etc., kriegt er unter Umständen wenig davon mit, was im Land läuft. Und ja, das kann auch auf Korrespondenten in den USA zutreffen, die ihre Bubble nie verlassen.
Ich sitze in einem Cafe in Austin. Mal wieder unglaublich freundliche Bedienung, soll eine wunderbare Stadt sein und zugleich Hauptstadt eines roten, republikanischen Staates. Obwohl Austin selber blau, demokratisch ist. Das Leben scheint seinen normalen Lauf zu nehmen und ich bin gespannt, ob sich daran etwas ändert, wenn die ersten Resultate eintreffen.
Ich war in Nairobi, Kenya, als die Wahlresultate bekanntgegeben wurden. Ging durch die Stadt und fühlte mich unwohl. Viele Läden waren am Montagnachmittag geschlossen, auch sonst seltsame Stimmung. Weshalb ich früher zum Hotel zurückging. Ich weiss nicht mehr, ob ich da schon die News hörte, dass das Wahlresultat bekanntgegeben werden soll, auf jeden Fall ging ich am Abend nochmals raus, um etwas zu essen. Alle Restaurants geschlossen. Ohne Ausnahme. Man befürchtete Ausschreitungen. Zum Glück passierte nichts. Auch in Washington sollen Geschäfte schliessen, Türen und Fenster verbarrikadieren. Nachvollziehbar. Und für Washington vielleicht berechtigt. Aber ich spüre hier in Austin nichts dergleichen, nichts und habe auf der ganzen Reyse nie irgendetwas gespürt oder wahrgenommen, was auf eine gewalttätige Auseinandersetzung hindeuten könnte. Gut möglich, dass ich mich irre, dass eben einfach das vor Ort sein es nicht ermöglicht, entsprechende Aussagen zu machen. Und dass der oberflächliche Schein nicht dem entspricht, was unter der Oberfläche brodelt.
Nachtrag: Ich zitiere n-tv (11 Uhr Central Time): „Der Wahltag in den USA wird nicht nur mit Spannung, sondern auch mit Sorge erwartet. Wegen der aufgeheizten Stimmung, die den Wahlkampf begleitete, haben viele Menschen Angst, dass es zu Gewalt kommen könnte. Vorsichtshalber werden landesweit die Sicherheitsvorkehrungen in einigen Wahllokalen erhöht.“
Vielleicht passt das gerade gut. Von welcher aufgeheizten Stimmung reden die? Nehme ich sie einfach nicht wahr, basiert der Journalist sein Urteil auf Fernsehbilder? Dass Sicherheitsvorkehrungen in einigen Wahllokalen erhöht werden – hoffentlich! Gerade in den umstrittensten Gebieten wird hoffentlich richtig sauber gearbeitet! Und ja, es gab schon Brandanschläge auf gefüllte Wahlurnen in Oregon. Daraus aber einen drohenden Bürgerkrieg (ich übertreibe) abzuleiten ist dann doch etwas gewagt. Aber auch hier: vielleicht werde ich das Land schneller verlassen müssen als geplant, weil Sachen passieren, die niemand vorhergesehen hat. Sehr unwahrscheinlich allerdings.
Nachtrag 2: Ich stelle mir grad ein Cafe irgendwo am Mittelmeer vor. Alte Männer mit viel Temperament sitzen vor ihrem Espresso und – streiten. Der Kommunist gegen den Faschisten gegen den Demokraten. Vielleicht ist das nur ein Klischee. Aber das gibt es hier eben überhaupt nicht mehr. Kein Miteinander, zwei völlig verschiedene Welten. Wobei, habe vor kurzem einen Artikel gelesen, der mir eingeleuchtet hat, dass eben sagen wir 30 Prozent stark links und 30 Prozent stark rechts sind, eine grosse Mehrheit gemässigt. Man hört einfach diese Stimmen nicht. Warum sie dann aber Trump wählen? Ich weiss es nicht.
Nachtrag 3 (ist ja Wahltag…): Vom hippen Kalifornien zum ultrakonservativen Midwest sind die Wege lang. Ich mag das Buch Zwischen Welten von Juli Zeh und Simon Urban sehr. Darin streiten sich, respektive diskutieren ein hipper Journalist und eine sehr bodenständige Bäuerin. Und man lernt zu verstehen wie und warum Menschen auf dem Land anders ticken als in den Städten. Und vor allem: man lernt Sympathien zu entwickeln für diese Welt und versteht besser, warum die hippe Welt von vielen abgelehnt wird.
Dieses Bild stammt aus einem sehr „gerechten“ Laden Downtown Beverly Hills, wenige Kilometer vom Wohnort von Kamala Harris entfernt. Man bietet da Wasser aus Island in Aludosen an, das „carbon neutral“ sei. Vermutlich ohne Flug und Entsorgung der Dose gerechnet, Energie auf Island ist dank Geothermie offiziell grösstenteils CO2-frei. Und der Bauer, der kurz davor ist unter Schulden zusammenzubrechen muss wieder mehr fürs „Gas“ bezahlen, weil… Ja, es fällt schon extrem auf: Harris/Walz Schilder befinden sich vor allem in den sehr wohlhabenden und schön gelegenen Gebieten, wo Leute in einer Welt leben, die kaum unterschiedlicher sein könnte von jener von Joe Sixpack. Wenn die Propaganda diese Unterschiede noch weiter verstärkt, dann lässt sich die Spaltung allmählich besser verstehen.
Lieber Herr Profi
Ich ziehe meinen Hut vor Ihnen.
Danke für diese grandiose Berichterstattung.
Ich erachte es als reife Leistung, dass Sie meiner Kritik seriös und ausführlich begegnen und sie mit Argumenten einbalsamieren. Welch Hände!
Ich möchte es als Kompliment an Sie verstanden wissen, dass ich dank Ihrem Blog Beiträge im Stil n-tv wirklich nicht glaubhaft finde, sondern allerhöchstens Effekthascherei. So geht’s mir seit 110 Tagen beim Zeitunglesen. Verdammte Ewigkeit.
Beste Grüsse und einen guten Wahltag!
Mr. Pizza Hut
„Radfahren – monoton und abwechslungsreich, langsam und schnell, anstrengend und entspannend, mit Rückenwind und mit Gegenwind – immer 100 % draussen. Doch auch wenn es kaum Wind hat, Fahrtwind gibt es immer und das Hirn ist in diesem Modus irgendwo zwischen „aufmerksam“ (Verkehr) und „Automodus“. Und das 8 Stunden am Tag. Es gibt viel zu beobachten. Alles ist sehr unmittelbar, die Temperaturen, die Luftfeuchtigkeit, die Düfte (von betörend bis toxisch), die lebenden und die toten Tiere, der Strassenbelag und die Löcher, die Landschaften, die Steigungen, die Häuser, die Menschen, die Autos. Keine schützende Hülle, allem ist der Radfahrer unmittelbar ausgesetzt. Da erstaunt es nicht, dass einige Gedanken kommen und gehen.“ (aus Fahrtwindgedanken, 2022, S.7)
Du beschreibst eindrücklich die Unterschiede von Berichterstattungen in den Medien und RealLife. Ja und ich teile Deine Ansicht. Reporter mit SUV ausgestattet, in einer Gated community lebend, Klickzahlen generieren müssend – das gibt andere Berichte.
Wobei dies jetzt nicht als Medienbashing daher kommen soll, ich habe gerade wieder zusätzliche Zeitungen abonniert, nicht um alles zu lesen (Tagesnews weniger, Reportagen und Hintergrundberichte schon), sondern weil ich glaube, dass wir unserer Demokratie, unserer Medienlandschaft, unserer Gewaltentrennung, unserer Streit-und Debattenkultur mehr Sorge tragen müssen denn je.
Und da glaube ich einfach an Reporter, die vor Ort ins unmittelbare Leben, beispielsweise mit einem Fahrrad (oder auch einem Kindervelo), eintauchen, die ihren Kopf und ihren Körper dem Fahrtwind aussetzen um damit ihr Hirn zu animieren, neue kreative Gedanken zu finden und diese dann aufschreiben und veröffentlichen.
Noch etwas ganz anderes: (obwohl, heute wird es etwas gar harmonisch).
Juli Zeh ist mir ja etwas zu langatmig, Zwischenwelten aber – genial, da hast Du recht, Reyman.
Kürzlich habe ich ein Buch gelesen, das ein ähnliches Thema aufgreift, und an Dich gedacht.
In Spanien (das ist wichtig), kommt ein sehr woker Städter in ein kleines ländliches Dorf und möchte die Bewohner bekehren, entwickeln, verbessern, whatever.
Eine moderne Don Quixote Geschichte, der woke Hipster realisiert nicht, dass er sich mit seinen „Neuer-Mann-Workshops“, Ideen zur Verkehrsberuhigung in einem entvölkerten Dorf und anderem zum Affen macht. Musste beim Lesen häufig laut lachen, der Don Quixote-Hipster auf seinem naiven Feldzug für das Gute. Nur:
Triggerwarnung:
Genau die erste Hälfte des Buches ist genial, der zweite Teil langweilt, weiss nicht, was den Autoren da geritten hat. (Daniel Rodriguez Gascon, Der Ritter von der traurigen Gestalt).
Sonst läuft alles gut in der Heimat, phantastische Konzerte im Lieblingsclub Albani, Explora-Saison ist gestartet mit ersten guten Vorträgen und ja, der FC Winterthur hat auch seit langem wieder einmal gewonnen.