Tag 130. Das Zwischenfazit nach 4 Monaten habe ich verpasst. Wie ein Kommentator mal gemeint hat: es waren wohl mehr als 60 Tage, aber inzwischen bin ich einem neuen Leben angelangt. Ist zur Normalität geworden. Und staune, dass ich schon mehr als 4 Monate unterwegs bin. Und ich spüre plötzlich den Druck, etwas vorwärts zu machen, um Teil 3 noch durchziehen zu können.
Heute möchte ich aber den Kommentar von bro ins Zentrum stellen. Er wirft mir Einseitigkeit vor und hat damit absolut recht. Fahrtwindgedanken. Ich formuliere meine Gedanken. Ich finde seinen Einwand aber völlig nachvollziehbar, weshalb ich den Kommentar hier 1:1 poste. Eingehen möchte ich danach aber auf den Spruch von Mani Matter mit dem er schliesst. Und der in meinen Augen zum einen falsch ist, zum anderen aber auch den Unterschied zwischen amerikanischem und europäischem Denken gut aufzeigt.
bro: „Eindrücklich wie Du die sozialen Zustände in Amerika beschreibst.
Treffen sich hier die religiösen Richtungen Calvinismus und Buddhismus? „Wenn es Dir mies geht, bist Du selbst schuld oder hast es halt im vorherigen Leben verkackt.“ Der liebe Gott scheint hüben wie drüben eine wirklich zynische Ader zu haben.
Du erzählst die Geschichte des Elends in erster Linie mit dem überbordenden Sozialstaat, mit Bürokratie (z.B. Deutschland) oder Argentinien, Griechenland und dutzende anderer Staaten (einander Nettigkeiten zuschanzen = Korruption). Das ist sicher nicht falsch doch auch sehr einseitig (hier komme ich wieder mit meinem Ambiguitätsdingsbums).
Die Exzesse sind meines Erachtens ebenso auf der anderen Seite der Armut zu finden: Geld, Reichtum, Überfluss sind an so vielen Orten anzutreffen. Wer hat, dem wird gegeben. Und was man hat wird behalten (ausser ein paar Almosen, man möchte ja ein guter Mensch sein und schliesslich steht auch Weihnachten vor der Tür).
– Warum gibt es soviele Steuerschlupflöcher? Und warum gilt Steuervermeidung als Volkssport während es daneben vielen Menschen wirklich beschissen geht?
– Warum werden jede Woche in der Sonntagszeitung 3-4 Fragen beantwortet „Habe 1 Million in XY investiert und noch 1 Hypothekenbefreites Haus, soll ich mit meinem Bargeld von 500’000.– noch in Dividenenperlen investieren oder in strukturierte bla bla bla“. Jede Woche gibt es ernsthafte Antworten dazu. Das ist die Normalität der SZ-Lesenden. Und da soll mir jemand sagen, es gäbe kein Geld.
– Warum gibt es keine (moderate) Erbschaftssteuer?
– Warum gibt es überall immer fettere Karren, Teslas, Jaguars, SUVS etc.?
– Warum ist Overtourismus ein ernsthaftes Problem geworden? Wohl ein klares Indiz, dass Geld für immer mehr Leute vorhanden ist.
– Warum ist es heute normal, dass viele Manager mehr verdienen als ein Bundesrat?
Ja, es ist unglaublich kompliziert und bürokratisch geworden (z.B. EU) und da haben Linke wie Rechte ihren Anteil. Linke, weil sie (zu Recht) Rechte von Arbeitnehmenen und Natur vertreten und dafür braucht es Gesetze und Kontrollen. Rechte (bzw. Neoliberale), weil sie überall neue Schlupflöcher finden, um den eigenen Vorteil zu maximieren, was wiederum neue Gesetze nach sich ziehen muss. Bei zuvielen Gesetzen wird es schnell kompliziert und unflexibel, was der Wirtschaft wieder schadet. Die Schlupflöcher werden noch perfider oder eleganter (je nach Sichtweise), ein Paradies für Rechtsanwälte und Bullshit-Jobs. Noch eine grosse Prise Korruption, Arroganz und Narzissmus dazu und wir haben den Salat.
Was ich eigentlich sagen will: Es ist nicht einfach der Staat der wegen seinen Nettigkeiten mit Kahlschlägen à la Mileil und dem Konzept Liberalismus „gerettet“ werden muss. Gerade der Liberalismus, der sich nicht für die Nöte der Menschen und die Natur interessiert (jeder ist für sich selbst verantwortlich – ist der Liberalismus eigentlich auch ein religiöser Verein – siehe Calvinismus, Buddhismus?), muss zwingend wieder von Regulierungen gebändigt werden, und dann geht das Spiel von Neuem los.
Zusammenfassung:
Geld wäre vorhanden (für menschenwürdiges Leben für Alle).
Gier ist leider auch vorhanden und sehr salonfähig.
Moralische, religiöse und ultraliberale Konzepte schaden mehr als sie nützen („sälber gschuld“).
Sozialismus funktioniert nicht.
Staaten neigen dazu, bürokratisch, fett und korrupt zu werden.
Lichtblick Schweiz: Die Stimmbürgenden 🙂 haben dieses Wochenende eigentlich ganz vernünftig abgestimmt.
Aber was schwafle ich da: viel besser, kürzer, einfacher und poetischer hat es schon vor Jahren ein Berner namens Matter gesagt:
„Dene wos guet geit, giengs besser
Giengs dene besser wos weniger guet geit
Was aber nid geit, ohni dass′s dene
Weniger guet geit wos guet geit““
Ach. Es juckt schon in den Fingern auf den einen oder anderen Punkt einzugehen, aber ich lasse es. Gnngnggngnng. Zu Mani Matter.
„Dene wos guet geit, giengs besser, Giengs dene besser wos weniger guet geit“. Hier könnte man wohl direkten Bezug nehmen auf die Obdachlosigkeit. Wenn es einem gut geht – ökonomisch – will man wohl eher nicht hinter Gittern leben. Um sich abzugrenzen. In einer Gated Community. Und zumindest ich möchte nicht in einem Ort leben, wo viele Obdachlose vor meinem Haus leben. Eine schreckliche Vorstellung. Nicht primär wegen der möglichen höheren Kriminaltiät, sondern, weil das Elend deprimiert. Mir geht es besser, wenn es jenen besser geht, denen es weniger gut geht. Da bin ich wohl sehr europäisch und stimme ich mit Mani überein.
Das Problem bei Mani Matters Spruch ist aber der zweite Teil: „Was aber nid geit, ohni dass′s dene Weniger guet geit wos guet geit“. Das ist natürlich Bullshit. Ich denke, Mani spricht hier die falsche Vorstellung an, dass Wirtschaft ein Nullsummenspiel sei. Im Sinne von Bertold Brechts Spruch: „Reicher Mann und armer Mann standen da und sahn sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär‘ ich nicht arm, wärst du nicht reich.“ Das ist eine eher europäische Sichtweise, die sich auch im Marxismus findet und ökonomisch zumindest in den meisten Fällen schlicht falsch ist.
Man stelle sich ein Dorf vor. Die Menschen leben von der Landwirtschaft, in schlechten Jahren verhungern sie, in guten Jahren hungern sie. Jetzt kommt ein Unternehmer, investiert in neue Produktionsmethoden, schafft Arbeitsplätze und dies mit Gewinn. Danach sind alle reicher (ob glücklicher will ich nicht beurteilen). Wohlstand entsteht durch Investition, auch dadurch, dass es Menschen gibt, die Risiken eingehen. Dieses Risiko will vergütet sein. Gelingt es, haben am Schluss alle mehr, die Investition hat sich für den Investoren gerechnet, aber auch die Menschen im Dorf stehen materiell nun besser da. Der Reiche hat den Armen nichts weggenommen, wurde aber dennoch reicher. Die Armen haben aber auch dem Reichen nichts weggenommen. Sondern alle (!) haben profitiert. Demjenigen, dem es gut geht, geht es nicht weniger gut, wie Mani betont. Aber auch den Armen geht es nicht schlechter, sondern sogar besser. Win win. Was in linken Kreisen besser nicht erwähnt wird. Blasphemie. Denn die Reichen sind ja grundsätzlich und ohne Ausnahme die Bösen…
Der von bro angesprochene Overtourism ist beispielsweise genau eine Folge davon. Durch sinnvolle Investitionen wird heute mehr Kapital (auch Wissen, Fertigkeiten etc.) genutzt, wurde die Produktivität gesteigert, was zu mehr Wohlstand führt. Davon profitieren Reiche wie auch Arme (ja, die Armen von vor 20 Jahren sind heute verantwortlich für den Overtourism!). Die sozialistische Alternative, die Reichen zu enteignen und ihr Kapital den Armen zu geben funktioniert langfristig nicht, da dann die (auch risikobehafteten) Investitionen fehlen.
Ja, ich weiss, schon wieder bin ich wohl nicht neutral genug. Aber mir geht es um diesen Grundsatz. Wohlstand wird nicht dadurch geschaffen, dass man den Reichen wegnimmt, sondern indem man gute Investitionsbedingungen schafft. Allerdings hat diese Vorgehensweise viele sehr negative Nebenerscheinungen, weshalb der Staat Rahmenbedingungen schaffen muss. Unbedingt auch Gelder umverteilen, Massnahmen gegen die Obdachlosigkeit und andere Formen von Armut ergreifen soll. Aber das geht erst dann, wenn Wohlstand vor allem durch Private geschaffen wurde. Dazu gibt es nur zu viele Beispiele in der Geschichte. Lenins neue ökonomische Politik, aber beispielsweise auch das Ende der Hungersnot in Nordkorea in den 90er Jahren als (sehr eingeschränkt) privater Anbau erlaubt wurde. Dasselbe in China nach dem grossen Sprung nach vorn, der zur grössten Hungersnot aller Zeiten geführt hatte. Etc. Etc.
Und hier sehe ich auch den grossen Unterschied zu den USA. Wo in Europa Wohlstand möglichst verborgen werden soll (ich betone ja auch immer, dass ich schon nicht in zu teuren Hotels übernachte…), darf, ja soll man in den USA seinen Wohlstand zeigen. Denn hier versteht man darunter nicht im Matterschen oder Brechtschen Sinne, dass Reiche den Armen etwas weggenommen haben, sondern dass jemand erfolgreich gewesen ist. Auch etwas für die Gemeinschaft geschaffen hat. Es fehlt dieses europäische schon ziemlich missionarisch-christliche „wer reich ist, der hat eh beschissen“. Der hat es eh den Armen weggenommen. Sondern es herrscht mehr die Vorstellung vor, dass wer reich ist, es verdient hat. Selbst wenn er beschissen hat. Denn dann hat sich jemand bescheissen lassen und der ist ja selber schuld. Und ich komme zum wiederholten Mal zum Calvinismus. Erfolg als Zeichen für jemanden, der in den Himmel kommen wird. Wo Europa zwar auch sehr christlich geprägt ist, aber mehr der Gedanke vorherrscht, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel komme.
Es gibt heute keine wirklich liberalen Staaten mehr. Im 19. Jahrhundert umfasste die staatliche Leistung an der Wirtschaft vielerorts vielleicht 10 Prozent des BIP. Heute sind es selbst in den USA über 40, in vielen Wirtschaften Europas über 50 Prozent. Tendenz zunehmend. Gleichwohl höre ich überall wie „neoliberal“ (= böse) es doch sei, wenn man darauf hinweist, dass diese Entwicklung falsch ist – und das ist sie. Und wird in brutalen Sparmassnahmen enden, wofür dann wieder Liberale verantwortlich gemacht werden (darauf habe ich hingewiesen). Dabei ist auch für die meisten Liberalen klar, dass es staatliche Regulierung benötigt, dass es eine gewisse Umverteilung braucht, aber bei 50 Prozent Staatsanteil ist definitiv nicht der Liberale der Radikale, wenn er einen schlankeren Staat fordert. Zumal wenn die Konkurrenz aus Asien, vermutlich bald auch aus verschiedenen Staaten Afrikas immer grösser wird – wir uns aber weiterhin diese „sozialen Nettigkeiten“ leisten. Zum Beispiel, dass Lehrer ein bezahltes Sabbatical machen müssen (es ist offiziell die Rede von einer Pflicht), das man mit etwas Geschick und erstaunlich wenig unbezahltem Urlaub auf ein ganzes Semester ausweiten kann. Ja, ich geniesse es, so wie andere diese „sozialen Nettigkeiten“ nicht zurückweisen, sie sind aber oft (nicht immer!) Gift in einer immer kompetitiveren Welt. Für diejenigen Staaten, die sie gewähren.
Aber ich sehe ja ein. Ich muss dem noch nachgehen. Und so ist zurzeit die Idee, den einzigen (!) Staat weltweit zu besuchen, der nach 1945 wirklich eine ziemlich radikal liberale Agenda verfolgt hat, was zwar nicht besonders gut funktioniert hat, gleichwohl ist es der Staat Südamerikas, der bis heute wirtschaftlich am Erfolgreichsten ist. Gegenbeispiel wäre Venezuela, von wo inzwischen über ein Viertel der Bevölkerung geflohen ist, weil ein System, das auch in der Schweiz von der Linken als „Sozialismus des 21. Jahrhundert“ gefeiert wurde die Wirtschaft komplett zerstört hat. Venezuela plane ich allerdings links liegen zu lassen, es gibt aber genügend andere Beispiele in Südamerika, die gegen einen zu starken Staat sprechen. Und die auf meiner Route liegen sollten.
Teil 3 ist in Planung, ich denke, es könnte aufgehen, ambitioniert, das bin ich mich aber inzwischen gewohnt. So wie ich mich langsam daran gewöhne Artikel mit der Formel „Fortsetzung folgt“ abzuschliessen.
Nachtrag. Vernünftig abgestimmt? Mein lieber bro*, du bist halt ein*e Winterthurianer*in.
Nachtrag 2: Ich wollte heute ja den Fototopspot besuchen. War leider auch geschlossen. Museumsmontag. Dafür gibts hier nen wunderbaren History-Trail. Civil Rights Bewegung. Kontrovers. Fortsetzung folgt.
Nachtrag 3: Und natürlich lassen sich manche von bro erwähnte Aspekte ergänzen, ich habe hier nur versucht einen Aspekt herauszuarbeiten, der sich mit anderen Massnahmen ergänzen lässt!