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Tag 131 Stuck

Anfang 90er Jahre besuchte ich eine Schule in Sacramento. Hauptstadt von Kalifornien. Metalldetektoren am Eingang. Um Waffen zu erkennen. Mein Host hatte am Abend eine verwirrte alte Frau auf dem Gehsteig angetroffen und war entgeistert, weil sie unwissentlich durch die NoGo Nachbarschaft gegangen war. Und es überlebt hatte! Heute ein Artikel von David Signer in der NZZ. Wie gefährlich Chicago sei. Ich bin in Atlanta, mal wieder eine gemütliche Unterkunft, Gartentor ist nicht abschliessbar, die Fenster würden einem Einbruch keine Sekunde standhalten. Ich weiss nicht, wie ich das einschätzen soll. Auch bei Signers Artikel kommt es mir teilweise so vor als ob er übertreibe. In einer Grossstadt wie Chicago passiert halt einiges. Oder bin ich einfach naiv?

Birmingham, wo ich gestern noch war, war eine „Hochburg“ der Civil Rights Bewegung in den 1950er und 1960er Jahren. Schwarze hatten beispielsweise weisse Geschäfte in der Innenstadt boykottiert, um für ihre Rechte zu kämpfen. Jugendliche und auch Kinder demonstrierten und wurden mit Wasserwerfern in Schach gehalten, manche sogar getötet. Es gab so viele Verhaftungen, dass die Gefängnisse nicht ausreichten. Und auch heute noch soll die Kriminalität im Ort extrem hoch sein. Hier einen Zusammenhang zu sehen ist naheliegend. Zwischen der Rassentrennung früherer Tage und den heutigen Problemen.

Vielleicht ist der Hinweis an der Türe der Highschool (vgl. Beitragsbild) für die USA nicht untypisch, vielleicht passt es doch in diese Stadt. Gun free zone. Ich lebe schon in einer heilen Welt. Und natürlich hat die Lage vieler Schwarzer bis heute mit der Vergangenheit zu tun, gibt es bis heute viele Ungerechtigkeiten und Herausforderungen, die ich mir als weisser, in der Schweiz geborener Junge gar nicht vorstellen kann.

Gleichwohl irritiert mich im Civil Rights Museum in Memphis vor ein paar Tagen die Darstellung in einem Film. Junge Leute sprechen davon wie „sie“ gefoltert, ausgebeutet, als Sklaven gehalten, benachteiligt etc. wurden. Immer in der „we“ Form. „We were held as slaves“. Nach einigem Überlegen komme ich drauf, was mich irritiert. Wären meine Grosseltern Nazis gewesen, wäre mein Grossvater direkt am Holocaust beteiligt gewesen, hätte Leute gefoltert und getötet, dann würde das in dieser Logik bedeuten, dass auch ich diese Verbrechen begangen hätte. Es würde dann heissen „we killed and tortured these peoples.“ Wogegen ich mich offensichtlich heftig wehren würde. Ich kann definitiv nichts dafür, wenn meine Grosseltern Verbrechen begangen haben. Sippenhaftung geht gar nicht. Gleichwohl habe ich ein gewisses Verständnis für diese Formulierung. Finde sie aber in vielerlei Hinsicht problematisch.

Diese Identifiktation mit den Verbrechen der Vergangenheit ist typisch für die woke Identitätspolitik. Richtig ist es natürlich auf Strukturen hinzuweisen, die in die Vergangenheit zurückweisen. Und gegen diese vorzugehen. Aber etwas mehr Differenzierung wäre wie in diesem Beispiel oft sinnvoll. Ambiguitätsdingsbums. Wäre mein Urgrossvater ein Sklavenhalter gewesen, hätte ich vermutlich tatsächlich bis heute Vorteile gegenüber einem Nachkommen eines Sklaven. Individuell beispielsweise durch ein Erbe, bessere Bildung etc., aber auch strukturell einfach dadurch, dass mir mein Weiss-sein Dinge ermöglicht hätte, die für einen Schwarzen viel schwerer zu erreichen sind. Schwieriges Thema. Und deshalb will ich es mal dabei bewenden lassen.

Ich hatte lange gebraucht, um in Atlanta eine passende Unterkunft zu finden. Die eine war nur zwei Tage frei, die andere drei, jene, die vier Tage frei war wurde mir vor der Nase weggeschnappt, weil ich zu lange haderte. Weil ich nicht wusste, ob ich zwei, drei oder vier Tage bleiben soll. Reysen bedeutet halt auch fast jeden Tag Entscheidungen zu treffen, was ermüdend ist. Wo soll ich hin? Was will ich tun? Welche Verbindungen gibt es? Welche Möglichkeiten habe ich? Welche Hindernisse gibt es (z.B. geschlossene Museen, überfüllte Städte am Wochenende)? Wann soll ich buchen? Zu früh hat mich schon viel Geld gekostet, weil ich die Pläne dann doch ändern musste, zu spät hat mich schon viel Geld gekostet, weil die preiswerten Unterkünfte, die günstigen Tickets dann schon weg waren.

Im Bus nach Atlanta wird mir dann zudem klar, dass ich schon das zweite Dokument zu Hause gelassen habe, das ich möglicherweise benötige. Den Impfausweis. Und ohne den kann ich kaum nach Südamerika. Gelbfieberimpfung. Habe ich, aber der Nachweis ist zuhause. Und eine Foto des Impfausweises wird kaum genügen. Ich kann ihn nachschicken lassen, was ohne Adresse mühsam ist, vor allem wenn es dann doch nicht 3 Tage dauert, sondern möglicherweise länger. Wäre aber wohl grundsätzlich möglich.

Vielleicht ist es auch das, weshalb mich das Thema Obdachlosigkeit stark beschäftigt. Und sie ist hier einfach so unfassbar weit verbreitet. Dieses Elend. Ich bin ja selber „on the road“. Muss mir fast jeden Abend eine neue Unterkunft suchen, wenn das auch für mich absolut kein Problem darstellt – zumindest im Vergleich. Und ein Aspekt fällt mir auf. In New Orleans beispielsweise gibt es für eine so touristische Stadt extrem wenige öffentliche Klos. Ähnlich in Memphis, wo die Existierenden geschlossen sind. Vermutlich gibt es hier schon auch einen Zusammenhang mit der Obdachlosigkeit, aber: wo gehen die? Ist für Menschen mit diesem Schicksal vielleicht nicht die grösste Herausforderung, aber halt doch auch ein Thema. Eine Antwort wäre naheliegend, aber es stinkt nicht. Obwohl es selten regnet und heiss ist.

Zurück zum Titel dieses Beitrags. Stuck. Als nächstes geht es wohl nach Florida, aber ich hab gar nicht so richtig Bock. Dann von Miami in den Süden. Impfausweis. Oder soll ich doch woanders hin? Karibik? Mittelamerika? Neuseeland? Schweiz? In Südamerika ist zwar im Winter Sommer, aber auch Regenzeit. Und will ich wirklich tagelang mit Bussen durch verschiedene Staaten reisen? Von Stadt zu Stadt? Auf schmalen, gefährlichen Strassen durch die Berge, in unbequemen Bussen, was weiss ich? In den 90er waren wir zwar in Kolumbien und die Busse waren – in phänomenalem Zustand. Im Vergleich zu Venezuela. Und das wird 30 Jahre später wohl vielerorts auch eher so sein. Aber…

Vielleicht nicht das erste Mal, aber in dieser Intensität wohl eben doch weiss ich nicht mehr so recht wie weiter. Im ersten Teil war das Ziel klar: Pazifik. Dort machte ich eine Pause und dann gings zurück in Richtung Osten. Auch das habe ich nicht hinterfragt. Hätte ja schon da irgendwo sonst hinfahren können. Aber jetzt bin ich grad ein wenig verloren. Und werde mich bald entscheiden müssen. Weshalb ich jetzt mal Schluss mache. Vielleicht bringt mir ja – keine Ahnung was – die Erleuchtung. Wie es weiter gehen soll und was der Kanton Zürich mit „2 Säulen“ gemeint hat. Ich weiss es nicht.

Nachtrag: Es rattert. Sehe schon wieder viele Möglichkeiten. Aber ach. Das heisst auch, es werden wieder Entscheidungen nötig sein… Ich glaube, ich fahre morgen zu Rei, kaufe einen neuen Rucksack und verkleinere endlich mein Gepäck. Dann stehen mir wieder alle Optionen offen… Wobei: Entscheidungen. Kann mich dann wieder darüber ärgern, dass ich genau das Falsche weggegeben / weggeworfen habe…

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